Vom Bauern zum Leinenwebermeister

Einleitung: Kurt Schmidt hat seinerzeit für seinen Kollegen Dr. Carl Gehrcke alle Fotos und Reproduktionen zur Illustration dieses Artikels angefertigt. Seine Negative sind seit Januar 2024 verfügbar und dadurch kann der folgende, jetzt siebzig Jahre alte Bericht über die Leinenweberei mit den optimierten Originalfotos hier veröffentlicht werden.

Vom Bauern zum Leinenwebermeister

Eine kulturpolitische Betrachtung zur Entwicklung der Leinenweberei im Altkreise Lüchow. Von Dr. Carl Gehrcke. Veröffentlicht in elf Teilen in der Heimatkundlichen Beilage der EJZ, "Am Webstuhl der Zeit", ab Nr. 8/1953 bis Nr. 6/1955.
Vor hundert Jahren noch stand im Kerngebiete des hannoverschen Wendlandes, im Altkreise Lüchow, ein Handwerk in höchster Blüte, das heute hier völlig ausgestorben ist: die Leinenweberei. Zwar haben wir in unserem Kreise auch heute noch eine aus Handspinnerei und Hausweberei hervorgegangene mechanische Leinenweberei: die 1874 gegründete, also fast achtzigjährige Firma Friedr. und E. Wentz, Inhaber Gebrüder Krome, in Wustrow, doch die Weberei als Handwerksbetrieb gehört seit etwa Ende des vorigen Jahrhunderts der Vergangenheit an. Die letzten zünftigen Leinenwebermeister sind dahingegangen, und nur die Ältesten im Lande entsinnen sich dieser längst verklungenen Handwerkskunst.

Für einen Kulturhistoriker müßte es eine verlockende Aufgabe sein, eine quellenmäßig belegte Geschichte der Entwickelung, der Blütezeit und des Unterganges der handwerklichen Leinenweberei im hannoverschen Wendlande zu schreiben Sie würde zugleich einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Kulturgeschichte unseres Kreises liefern.

Der Flachs zählt zu einer der ältesten Kulturpflanzen. Seine Verarbeitung zur Spinnfaser, das aus ihr gesponnene Garn und das aus diesem gewonnene Produkt, das Leinen, sind uralt. Gesponnen und gewebt haben schon mit primitivsten Handwerkzeugen die alten Ägypter, deren linnene Erzeugnisse die Nachwelt noch heute bewundert. Flachsanbau, Spinnerei und Weberei sind auch in unserem Heimatgebiete seit altersher betrieben worden. Der Erfindergeist des Menschen hatte sie sich dienstbar gemacht: Aus der Flachsfaser sponn er das Garn, und das Garn verwob er zum Leinentuch, das ihm die tägliche Arbeitskleidung lieferte.

Wir haben es also hier mit kulturschöpferischen Vorgängen seit urdenklichen Zeiten zu tun. Kultur ist alles, was zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse dient, Kultur umfaßt alles, was dem Menschen zweckmäßig, nützlich und dienlich ist. Weil der Mensch Kleidung braucht, schuf er sie sich mit den ihm dazu gebotenen Mitteln. Leinen lieferte ihm nicht nur Kleidung, sondern war vielseitig in der Verwendungsmöglichkeit.

Allerdings bekam die Kultur schon frühzeitig eine übermütige Schwester, an deren Wiege Eitelkeit und Gefallsucht Pate standen: die Zivilisation. Während sich die Kultur auf das beschränkt, was zur Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse nötig ist, gehört alles, was über diesen Rahmen hinausgeht, zur Zivilisation, die auf die Dauer zur Verweichlichung führt. Sie ist fast ebenso alt wie die Kultur und kann schon sehr früh Puderquaste, Lippenstift und Nagellack zu ihren Kindern zählen. Schon im Altertum hat sie ein besonderes Prunkstück aufzuweisen: Königin Cleopatra von Ägypten. Und es ist bezeichnend, daß eine Evastochter unserer hochzivilisierten Tage auf die Frage, warum sie sich ihre Fingernägel rot lackiere, in vermeintlicher Klugheit unter Berufung auf eben jenes Prunkstück des Altertums die kümmerliche Antwort gab: „Das hat ja schon Cleopatra getan!“
"Die Webermeister-Zunft-Lade Anno 1814" steht auf dieser Lade im Heimatmuseum (Amtsturm) der Stadt Lüchow. In ihr wurden wichtige Akten und das Dienstsiegel (auf der Lade rechts) der "Leinenweber- und Drellmacher-Innung zu Lüchow", der ältesten des Kreises, aufbewahrt.

Dieses war das Aufmacherfoto in dem ersten Teil des Artikels im August 1953. Links stehend beugt sich der Autor Dr. Carl Gehrcke über die Zunftlade.
Zunächst nur für den Hausgebrauch

Wenn man sich im hannoverschen Wendlande jahrhundertelang durch Flachsverarbeitung, Spinnen und Weben Kleidung und Wäsche selbst schuf, so geschah diese Arbeit zunächst ausschließlich für den Hausgebrauch, bei dem es auf ein besonderes handwerkliches Können wenig ankam. Man begnügte sich mit dem, was das Geschick des einzelnen zuwege brachte. Der lange Winter ließ genügend Zeit, um den Eigenbedarf an grobem Linnen zu erzeugen. Erst mit den Jahrhunderten stiegen allmählich die Ansprüche, und der nimmer ruhende Erfindergeist der Menschen trug zur Vervollkommnung der Werkzeuge und der Fertigkeiten bei. Die Erzeugnisse wurden qualitätsmäßig besser, die Ware verfeinert. Die ganze Familie, Mann, Frau und heranwachsende Kinder, sowie das Gesinde, Mägde und Knechte, wurden in den Arbeitsprozeß eingespannt. Eine wesentliche Erleichterung für das Spinnen des Garnes brachte das Spinnrad. Ein Einwohner Lüchows soll nach Karl Hennings das erste einspulige Spinnrad im Jahre 1608 aus dem Holsteinischen mitgebracht haben, während das Doppelrad, das in Wustrow erfunden sein soll, im Jahre 1808 allgemein im Wendlande eingeführt wurde.

Der soeben erwähnte Karl Hennings, ein Mitgründer der Lüchower „Zeitung für das Wendland“ im Jahre 1854, hat in seiner Festschrift „Das hannoversche Wendland“, die er 1862 anläßlich eines Besuches des Zentralausschusses der Königlichen Landwirtschafts-Gesellschaft zu Celle im Auftrage des damaligen Landwirtschaftlichen Lokalvereins des Wendlandes zu Lüchow geschrieben hat — ein Buch, das heute noch zu den bedeutendsten heimatkundlichen Werken gehört —, als erster auch sehr ausführlich die einstige Leinenweberei im Altkreise Lüchow behandelt. Er gibt ein recht anschauliches Bild von der langwierigen und mühseligen Zubereitung des Flachses zur Spinnfaser über Röten und Brechen, Schwingen und Hecheln, schildert das Spinnen und das Weben und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß diese „Sklavenarbeit“ gesundheitsschädlich und menschenmordend ist. Spinner und Weber haben sich in der Hausarbeit ihr Brot durch Fleiß und Schweiß verdienen müssen. Ihr Tag- und Nachtwerk im Winter erforderte nicht weniger Arbeit und Mühe als die harte Landarbeit im Sommer.

Wir können ohne genaue Kenntnis der Quellen, die sicherlich noch zu erschließen wären, nicht den Zeitpunkt bestimmen, zu dem man in unserem Kreise dazu übergegangen ist, die Weberei nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch gewerblich zu betreiben. Es liegt durchaus nahe, daß schon sehr frühzeitig der eine oder der andere, der es in der Webekunst recht weit gebracht hatte, so viel an Fertigwaren herstellte, daß sein Hausbedarf bedeutend überschritten wurde, und daß er dann diese Ware im Austausch gegen andere Dinge des täglichen Lebens abgab. Die Lebensverhältnisse zwangen dazu, neue Erwerbsquellen zu suchen. Karl Hennings begründet die Ausübung der Weberei in großen Teilen des Wendlandes durchaus mit Recht folgendermaßen: „Bei dem kleinen Flächengehalt des Grundeigentums der Wenden, bei der verhältnismäßig großen Zahl von Häuslern, An- und Abbauern, die wir in unserem Wendlande finden, und bei der daraus folgernden starken Bevölkerung dieser Gegend konnte der alleinige Betrieb der Landwirtschaft, da diese die vorhandenen Kräfte nur einen Teil des Jahres, vom Frühling bis zum Herbste, in Anspruch nahm, nicht ausreichend sein, es mußte eine andere Beschäftigung, ein anderer Nebenbetrieb die Existenz der zahlreichen Familien sichern. Diese Beschäftigung wurde die Weberei, das Verfertigen der Leinwand." Daß Hennings 1862 noch von Wenden spricht, mag auf den ersten Blick verwundern, darf aber nicht überraschen, da die Bezeichnung damals vielleicht noch gang und gäbe war, obwohl der letzte Wende seit über einem Jahrhundert bei uns das Zeitliche gesegnet hatte. Gemeint war sicherlich auch von Hennings der Wendländer als einheimischer Bewohner des hannoverschen Wendlandes.

Übergang zur Arbeitsteilung

Bauer und Bäuerin, Knechte und Mägde übten also durch Jahrhunderte zwei Berufe aus: den landwirtschaftlichen und einen handwerklichen, wenn auch diesen zunächst nur nebenher. Die Entwickelung der Weberei aus dem bäuerlichen Leben bestätigt überzeugend den Grundsatz, daß alle Kultur auf zwei Säulen ruht: auf dem Bauerntum und auf dem Handwerk. Sie beide sind ihre schöpferischen Gestalter und Förderer von Urväter Zeiten an bis auf den heutigen Tag. Die Entwicklung gerade der Leinenweberei im hannoverschen Wendlande ist ein Schulbeispiel dafür, daß alle Handwerkszweige einmal aus dem Urstande, dem Bauerntum, hervorgegangen sind. Dauernde Übung im Spinnen und Weben schuf auch hier zunächst für den Hausgebrauch den Meister. Und für jeden kam auf dem Lande einmal die große Stunde, in der es galt, diese Meisterschaft zu beweisen und der Öffentlichkeit zur Begutachtung zu unterbreiten. Dann nämlich, wenn die Zeit gekommen war, für die heiratsfähige Tochter eine Wäscheaussteuer anzufertigen. Bauer und Bäuerin setzten ihren Stolz in diese Aussteuer.Noch um die letzte Jahrhundertwende konnte man es oftmals erleben, daß, wenn eine Bauerntochter als junge Frau auf einem Hofe Einzug hielt, am Hochzeitstage der Wäscheschrank weit geöffnet alles zur Schau trug, was an selbstgewebter Wäsche, an Tüchern und Laken, an Servietten und Handtüchern, vom groben Gerstenkorn bis zum feinsten Linnen mit selbstentworfenen Mustern oft von Generationen angefertigt worden war. Dazu kamen nicht selten ganze Ballen besten Leinens in einem Stück. An diesen Mitgift-Schätzen des Wäscheschrankes wurden Wohlstand und Reichtum der Familie gemessen.

Bis zu einer scharf getrennten Arbeitsteilung zwischen Bauer und Leinenweber war es schließlich nur noch ein kleiner Schritt, der dann allerdings auch sehr bald zu einem völligen wirtschaftlichen Strukturwandel führte. Alles spricht dafür, daß wir als Zeitpunkt für diesen Wandel mit größter Wahrscheinlichkeit die Jahre während des Dreißigjährigen Krieges oder aber die Zeit unmittelbar nach diesem Kriege ansetzen dürfen. Damals brachen auch über das hannoversche Wendland Unheil und Vernichtung herein. Ganze Ortschaften wurden wüst und leer. Was mit Besitz und Leben davongekommen war, mußte für fremde Besatzung fronen. Erbarmungslos wurden Mensch und Besitz mit schwersten Lasten bedacht. Nicht nur einzelne Höfe, sondern ganze Gemeinden drohten unter der Last der Kontributionen in Natural- und Geldeswert zu zerbrechen. Mit den Einkünften aus den Ländereien ließen sich die zwangsmäßig auferlegten Schulden nicht mehr tilgen, der Hof vermochte alle seine Bewohner nicht mehr zu ernähren.Da wendeten sich zunächst einzelne, die dieses Handwerk für den Hausgebrauch von den Vorfahren erlernt hatten, einem ganz neuen Berufe zu: sie wurden nunmehr berufsmäßige Leinenweber, indem sie eine bisherige Nebenbeschäftigung zu einem vollgültigen selbständigen Handwerk erhoben. Aus der Not machten sie also eine Tugend. Man ging in den Famlien zu einer geordneten Arbeitsteilung über. Von den Söhnen übernahm einer den landwirtschaftlichen Betrieb, der andere oder gar mehrere wendeten sich der Leinenweberei zu, die hinfort nicht mehr ausschließlich für den Hausgebrauch ausgeübt, sondern gewerbsmäßig genutzt wurde. Das war die Geburtsstunde des Leinenweber-Handwerks im hannoverschen Wendlande. Das war zugleich der Augenblick, in dem sich zahlreiche Menschen aus ihrem jahrhundertealten Lebensbereiche lösten: Bauern wurden selbständige Handwerker, wurden zunftmäßige Leinenwebermeister.

Auf die grundlegende Bedeutung, die die Hinwendung zum vollwertigen Handwerksberuf eines Leinenwebers für die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Teile des hannoverschen Wendlandes hatte, ist bisher von keiner Seite hingewiesen worden. Karl Hennings sieht sie als gegeben an, und was man nach seiner Zeit hin und wieder in heimatlichen Zeitungen über die Leinenweberei im hannoverschen Wendlande lesen konnte, das war fast wörtlich aus Hennings Festschrift aus dem Jahre 1862 abgeschrieben, ohne daß auch nur ein neuer Gedanke oder eine wesentliche Ergänzung hinzugefügt worden wäre.Die Ausübung eines Handwerks als Beruf konnte nicht willkürlich erfolgen. Sie bedurfte für alle Gewerbe einer behördlichen Genehmigung. Der Staat sah schon sehr frühzeitig auf eine geordnete und geregelte Arbeitsführung, nicht zuletzt im Interesse des Handwerkes selbst, dann aber auch zur Verhütung eines überhand nehmenden Pfuschertums. Handwerkliche Arbeit setzte also die Erfüllung bestimmter Güteleistungen voraus. Solange man für den Eigenbedarf Kleidung und Wäsche webte, ging das niemanden etwas an, sobald aber ein Leinenweber Produkte für den Verkauf herstellte, gewann seine Tätigkeit öffentliches Interesse, und die Allgemeinheit galt es vor Übervorteilung durch minderwertige Ware zu schützen Aber auch die Handwerker selbst mußten größten Wert auf sie alle bindende Richtlinien und Grundsätze legen, damit allen gleiche Startmöglichkeiten und gleiche Chancen in der Ausübung ihres Berufes gegeben und gesichert wurden. Deshalb fanden sie sich schon sehr früh in Zünften zusammen und ließen sich von der Obrigkeit ihre Pflichten und Rechte gegeneinander und gegenüber der Öffentlichkeit verbürgen.
Der Original-Gildebrief der Leinenweber- und Drellmacher-Innung zu Lüchow vom 16. Juni 1694 mit der eigenhändigen Unterschrift des Herzogs Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und dem in einer Holzkapsel angehängten herzoglichen Siegel.
Die älteste Leinenweber-Innung

Wann sich die ersten Leinenwebermeister im hannoverschen Wendlande zu einer Zunft oder Innung zusammengeschlossen haben, ist noch unbekannt. Wo dieser erste Zusammenschluß erfolgte, darüber gibt uns die Webermeister-Zunft-Lade von 1814 im Lüchower Heimatmuseum hinreichenden Aufschluß. Sie enthält u. a. in bester Erhaltung die Originale zweier sehr alter Innungsbriefe des „Leinweber- und Drellmacher-Ambtes“ zu Lüchow aus den Jahren 1694 und 1732. Aus dem Innungsbriefe von 1694 geht einwandfrei hervor, daß es sich bei ihm um die Erneuerung eines noch älteren Gildebriefes handelt, daß also die Lüchower Leinenweber-Innung selbst schon vor 1694 bestanden hat. In Lüchow befand sich also die erste und älteste Leinenweberzunft des hannoverschen Wendlandes.

Der Zunft- (oder auch Gilde-, Amts-, Innungs-)brief vom 16. Juni 1694 fußt auf einer Verordnung des Herzogs Georg Wilhelm von Braunschweig - Lüneburg vom 4. August 1692, derzufolge sämtliche alten Innungsbriefe für ungültig erklärt wurden. Die alten Innungsbriefe wurden amtlich eingezogen, revidiert und nach den in der Generalverordnung von 1692 aufgestellten Richtlinien neue Zunftbriefe ausgehändigt. Die Verordnung von 1692 bildete die Mustersatzung für alle Innungen. Ihre allgemeinen Bestimmungen wurden unverändert in alle neuen Gildebriefe übernommen und dann jeweils für die einzelnen Handwerkszweige durch besondere spezielle Anordnungen ergänzt. Solche Generalüberholungen von Innungsbriefen geschahen von Zeit zu Zeit und erstreckten sich dann auf alle Gewerke. Sie wurden vor allem dann erforderlich, wenn sich in der Zwischenzeit Mißstände und Auswüchse herangebildet hatten, die nicht nur dem Ansehen des Handwerks in seiner Gesamtheit, sondern auch der Autorität der Obrigkeit schadeten.

Die nächste Generalüberholung der Innungsbriefe nach 1694 erfolgte unter König Georg II. von Großbritannien als Kurfürst von Hannover im Jahre 1732. Wir haben einmal die Original-Innungsbriefe der Lüchower Leinenweber und Drellmacher von 1694 und 1732 mit den ebenfalls noch vorliegenden Original-Innungsbriefen der Lüchower Schmiede-Innung aus den gleichen Jahren verglichen und dabei eine wörtliche Übereinstimmung der allgemeinen Bestimmungen festgestellt. Interessant ist auch die fast gleichzeitige Ausstellung beider Innungsbriefe in den beiden Jahren. Das Datum schwankt 1694 zwischen dem 16. Juni und dem 12. Juli, während beide Briefe 1732 am selben Tage, am 23. Januar, ausgestellt wurden.

Anscheinend nach dem Dreißigjährigen Kriege hatten sich in den Handwerkszünften des Lüneburger Landes „Mißbräuche, Unordnungen und unvernünftige Gewohnheiten so wol zu ihrer der Künstler und Handwercker selbst eigenem Beschwerunge als auch und fürnemlich des Policey-Wesens und deß Commercii (d. h. des Handels) Nachtheil und Schaden, auch sonsten zu Unserer und Unserer Unterthanen und Angehörigen höchsten Ungelegenheit eingeschlichen“. Einer dieser Mißbräuche hatte darin bestanden, daß die Innungen Handwerkern, die um ihre Aufnahme ersuchten, diese ungemein erschwerten, und zwar zweifellos aus dem Bestreben heraus, eine Verschärfung der Konkurrenz am Orte nach Möglichkeit zu unterbinden. Das hatte u. a. dazu geführt, daß die Innungen jedem Neuling, der ja zunächst sein Meisterstück ablegen mußte, diese Prüfung durch unsinnige Forderungen in fachlicher wie in finanzieller Hinsicht fast unmöglich machten. Mit solchen Mißständen, die, wie man wohl annehmen darf, bei den Lüchower Leinenwebern ebenso geherrscht haben wie in anderen Handwerkszweigen, räumte die Generalverordnung des Herzogs Georg Wilhelm von 1692 gründlich auf, indem sie bestimmte: „Gleich wie aber dabey bishero der Mißbrauch vorgangen, daß ein solcher antretender Meister ein gar zu kostbahres auch wol gantz unbrauchbahres oder alt-förmisches Meisterstücke zu machen genöthiget, auch bey dessen Besichtigung allerhand Unkosten veruhrsachet worden: Also sol jedes Orts Obrigkeit nicht allein darüber halten, daß dem Recipiendo (d. h. dem Aufzunehmenden) kein anders als ein solches Meisterstücke, so zwar künstlich, doch nicht gar zu köstlich, sondern brauchbahr sein, und also von Ihm ohne Schaden verkauftet werden könne, zu machen aufgebürdet, solches hernach in Präsenz einiger von der Obrigkeit dazu deputirenden Persohnen, von denen Alt- und einigen anderen der kundigsten Meister deß Handwercks (von welchen jedoch für solche Mühe nichts gefordert oder ... ichtwas an Gelde oder sonst genommen werden soll) besichtiget und darüber ein unparteiisches Bedencken gegeben werden. Im Fall nun daran etwann solche Mängel daraus abzunehmen, daß der Verfertiger seine Kunst oder Handwerck noch nicht verstehe ..., soll derselbe wie auch derjenige, so im examine nicht gehöriger maßen bestehen wird, vor dißmahl ab und sothane Kunst oder Handwerck besser zu erlernen angewiesen werden, sonsten aber einiger von denen Ambts-Meistern oftermahls mit Fleiß und aus Mißgunst hervor gesuchten Kleinigkeiten halber ihme keine Hinderung gemachet, sondern solches dem Arbitrio (d. h Schiedsspruch) der Deputirten vom Magistrat, auch da es nötig, der Censur anderer unparteiischen Meister heimgestellet, und da sich hierunter eine geflissentliche Zunöthigung hervor tun solte, der Verfertiger dessen ungeachtet zur Meisterschaft admittiret werden.“

Damit war allgemein der willkürlichen Allmacht der Meister bei der Entscheidung über ein Meisterstück eine Grenze gesetzt worden. Diese Bestimmung fand Eingang in alle Innungsbriefe von 1694 und hat sicherlich zu einem starken Aufblühen der einzelnen Handwerkszweige und damit auch der Leinenweberei als Handwerk beigetragen.

Die Innungsbriefe von 1694 und 1732

Der „auff Unßer Residenz Zelle“ von Herzog Georg Wilhelm eigenhändig unterzeichnete Innungsbrief für die Leinenweber und Drellmacher zu „Lüchaw“ von 1694 enthält in 31 Artikeln genaue Bestimmungen über Meister, Gesellen und Lehrlinge. Die Lehrzeit betrug im allgemeinen drei Jahre. Im Jahre 1732 wurde diese Bestimmung dahin erweitert, daß arme Lehrjungen, die das Lehrgeld nicht zahlen konnten, höchstens vier Jahre Lehrzeit abzumachen hatten. Solche armen Lehrjungen mußte jeweils ein Meister einstellen, „den die Reihe trifft“. Auch recht beachtliche soziale Gesichtspunkte finden sich schon im Innungsbriefe von 1694. Nach dem Artikel 8 sollen alle Vierteljahre Meister und Gesellen etwas in die Lade tun zur Unterstützung von armen und kranken Meistern und Gesellen. Wenn diese später wieder gesund und wohlhabend sind, sollen sie die Unterstützungsbeträge zurückzahlen, andernfalls aber werden sie ihnen erlassen. Nach Artikel 10 sollen auch Strafgelder, soweit sie der Innung verbleiben, für arme und kranke Mitglieder verwendet werden. Außerdem wurden auch für die Witwen verstorbener Meister Sicherungs- und Schutzbestimmungen eingebaut.

Nach dem Innungsbrief von 1694 durften die Lüchower Leinenwebermeister bis zu acht „Taw“ halten. Die Zahl der Gesellen wurde hier also der Zahl der nach Tauen berechneten Webstühle gleichgesetzt. Konnte ein Meister jedoch die ihm übertragene Arbeit mit dieser Zahl nicht schaffen, so durfte er vorübergehend so viele Gesellen einstellen, wie er benötigte. (Artikel 15). Jeder Meister wurde ausdrücklich angehalten, eine übernommene Arbeit in der von ihm versprochenen Zeit zu liefern. Tat er das nicht, konnte er von der vorgesetzten Behörde in Strafe genommen, ja, bei wiederholten Klagen sogar seines Handwerkes für verlustig erklärt werden, (Artikel 14).

In der Zeit bis 1732 muß das Leinenweberhandwerk in Lüchow einen starken Aufschwung genommen haben. Die Zahl der Meister war bedeutend angestiegen. Das führte zu einer erheblichen Beschränkung der Gesellenzahl, die in dem Innungsbriefe von 1732, der sich im übrigen in seinen grundsätzlichen Bestimmungen ebenfalls auf die Generalverordnung vom Jahre 1692 beruft und dementsprechend in vielen Abschnitten wörtlich mit dem Gildebriefe von 1694 übereinstimmt, auf vier Gesellen und einen Jungen festgesetzt wurde und wieder nur in dringenden Ausnahmefällen überschritten werden durfte.

Jeder selbständige Meister mußte Mitglied der Innung sein. Der Landesherr behielt sich allerdings vor, „ein oder mehr Freymeister zum Leinweben und Drellmachen, dieser Zunfft ungehindert, nach Unseren Belieben dahin zu setzen unndt zu beordnen“. Nicht unter den Zunftzwang fielen ferner die Handwerker in den Vorstädten von Lüchow, die ja auch nicht das Bürgerrecht hatten, das für Handwerker in der Stadt Vorbedingung war, und die Handwerker auf dem Lande. Diese Einschränkung scheint sich im Laufe der Zeit nicht bewährt zu haben, da sie einem Pfuschertum Vorschub leistete. Man hat zwar 1732 wiederum „Leineweber und Drellmacher auf dem Platten Lande geduldet“, gleichzeitig aber den Meistern der Lüchower Innung gestattet, nach vorheriger Genehmigung der Aufsichtsbehörde im Beisein eines Gerichts- oder Amts Vertreters von Zeit zu Zeit sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande Überprüfungen vorzunehmen, „ob auch so genannte Pfuscher, welche nicht mit im Amte seyn noch Consession haben, vorhanden“ wären. Diesen durften sie das Handwerkszeug abnehmen, das dann der Obrigkeit übergeben werden mußte. (Artikel 36 und 40 des Innungsbriefes vom 23. Januar 1732).

Aber auch der Auftraggeber und der Käufer von Leinen wurden gegen Übervorteilung ausdrücklich geschützt. Der Artikel 29 des Innungsbriefes von 1694 enthält folgende Anordnung: „Auch sollen die Leinweber und Drelhnacher gehalten seyn, das Linnen und Drell mit dem Kamm dem Eygenthümer ins Hauß zu bringen unndt in gegenwart deßen solches abzuschneiden“.

Im übrigen wurden in den Innungsbriefen Rechte und Pflichten der Meister und Gesellen genau festgelegt, ebenso Lehrzeit und Lossprechung. Innungsversammlungen durften nur im Beisein eines Vertreters des Magistrates abgehalten werden, Briefe für die Innung nur von diesem geöffnet, Anworten nur mit seiner Genehmigung erteilt werden. Das Innungssiegel führte der Magistratsdeputierte. Alle diese Bestimmungen wurden 1732 im einzelnen erweitert und genauestens umrissen. Nunmehr hatte die Innung in jeder ersten Vollversammlung eines Jahres vor dem Polizeiaufseher und dem Ratsdeputierten über Einnahmen und Ausgaben genaueste Rechnung abzulegen und einen neuen Vorstand zu wählen. Mit Strafandrohungen für Ungehorsam oder Nichtbefolgung von Bestimmungen wurde in den Innungsbriefen nicht gespart.

Bis zum Jahre 1735 war die Lüchower Leinenweber- und Drellmacher-Gilde die einzige ihrer Art im ganzen Altkreise Lüchow. Auf dem flachen Lande bestand im Gegensatze zur Stadt Lüchow kein Zunftzwang. Wer jedoch seine Gesellen- und seine Meisterprüfung machen wollte, war den Prüfungsbestimmungen unterworfen, die für die Innungen galten. Das bedeutete, daß bei allen Prüfungen auf dem Lande auch mindestens ein Innungsmeister aus Lüchow oder einem Orte des Wendlandes zugegen sein mußte. Für Leinenwebermeister auf dem Lande gab es also bis 1735 nur eine Innung ihres Handwerkes: die in Lüchow. Wer bis zu diesem Zeitpunkte seine Prüfung als Landmeister ablegte und Innungsmitglied werden wollte, konnte dies nur in Lüchow werden.
Die ehemalige Herberge der Handwerksgesellen zu Lüchow, das "Haus auf der Insel" (jetzt Gastwirtschaft Niemann in der Langen Straße). Dort hielten auch die Leinenwebergesellen ihre Krugtage ab, dort zahlten sie monatlich ihre Krankenkassenbeiträge, dort wurden ernstlich erkrankte Gesellen gepflegt. In diesem Haus des Handwerks spielte sich auch das Leben aller Lüchower Innungen ab.
Die Innungslade

Einer jeden Innung wurde in früheren Zeiten bei ihrer Gründung die Anschaffung einer Lade zur Pflicht gemacht, deren Betreuung einem zum Innungsvorstande gehörenden Lademeister oblag. In dieser Lade wurden die Gelder bis zu einer bestimmten Summe — wurde diese überschritten, mußte das Bargeld mündelsicher angelegt werden — und die wichtigsten Papiere wie Innungsbriefe, Satzungen, Verordnungen und Verfügungen sowie das Dienstsiegel aufbewahrt.

Die Innungslade war für alle Meister ein Heiligtum. Innungsversammlungen durften nur vor offener Lade mit entblößtem Haupte gehalten werden. Wer sich vor offener Lade ungebührlich benahm, wurde bestraft. Heute ist die Innungslade aus Innungsversammlungen längst verschwunden. Nur bei einer Gelegenheit hat man erfreulicherweise an diesem altehrwürdigen Handwerksbrauche bis auf den heutigen Tag in überlieferter Tradition festgehalten: bei der zweimal im Jahre stattfindenden feierlichen Lossprechung der Lehrlinge, die allerdings nun nicht mehr innerhalb der einzelnen Innungen, sondern gemeinsam in Gegenwart aller Innungen durch die Kreishandwerkerschaft erfolgt.

Was wir in unseren Tagen über die Lüchower Leinenwebermeister, -gesellen und Lehrlinge noch erfahren, das hütet allein als ein wertvolles Vermächtnis aus längst verklungenen Zeiten die schlichte Innungslade aus dem Jahre 1814 im Heimatmuseum des Lüchower Amtsturmes. Sie enthält außer den beiden Innungsbriefen von 1694 und 1732 eine Anzahl von Aufzeichnungen, Bestimmungen, Entwürfen und sonstigen Einzelpapieren, die bis in das Jahr 1724 zurückführen. Diese Tatsache widerlegt eindeutig die zunächst naheliegende Annahme, daß etwa die älteste Innungslade bei dem großen Lüchower Brande im Sommer 1811 ein Opfer der Flammen geworden ist. Dann hätten ja auch alle diese wichtigen Papiere aus der Zeit vor 1811 mitvernichtet worden sein müssen. Die alte Lade kann nur ein Opfer des Wurmes geworden sein, so daß man sie 1814 durch eine neue ersetzte. Die alten Innungsladen haben alle den großen Brand überstanden, weil sie im einstigen Hause des Lüchower Handwerkes, in der alten Handwerks-Herberge, aufbewahrt wurden, das von jener Feuersbrunst verschont blieb: das Haus auf der Insel, die heutige Gastwirtschaft Niemann in der Langen Straße („Fröhlings Marie“).

Was sich heute noch in der Lade des „Leinweber- und Drellmacher-Ambts“ zu Lüchow befindet, ist zu wenig, um eine Geschichte dieser Innung schreiben zu können, gibt aber doch über manche Einrichtung und über viele Nöte dieser Handwerkszunft bedeutende Aufschlüsse.

Leinenweber-Gesellenordnung von 1724

Da liegt in der Lade eine sauber handgeschriebene „Copia (d. h. Abschrift) des Reglements der Leineweber Gesellen“ in dem in 36 Artikeln ausführlich festgelegt wird, „wornach die Gesellen des Leineweber Amts zu Lüchau sich zu richten und zu verhalten haben“. Rechte und Pflichten der Gesellen sind genau verzeichnet. Über allen steht der auf ein Jahr gewählte Altgeselle, dem besondere Vollmachten, aber auch Sonderpflichten auferlegt werden. Man hat sich allerdings die Aufstellung dieser Satzung sehr leicht gemacht, wie der Schluß dieser Ordnung verkündet: „Extrahiret zu Lüchow aus der Dannenbergischen Amts Leinweber Gesellen Privilegio d. 28. October 1724.“ Die Gesellen-Ordnung der Dannenberger Leinenweber-Innung hat also den Lüchowern als Vorbild gedient. Im gesamten Altkreise Dannenberg hat es nur in der Stadt Dannenberg eine Leinenweber-Innung gegeben, die demnach schon 1724 in hoher Blüte gestanden haben muß.

Nach Genehmigung dieser Gesellenordnung durch die Leinenwebergilde zu Lüchow wurde sie auf ein entsprechendes Ansuchen vom „Churfürstl.-Braun-schwg.-Lüneburgischen Ambte“ Lüchow am 16. Januar 1725 bestätigt. Diese Bestätigung trug die Unterschriften M. Schlemme und K. Koch. Mit dieser Bestätigung begab sich die Leinenweber-Innung zum Rat der Stadt Lüchow, der darauf durch ein „Actum Lüchow in curia (d. h. im Rathause) d. 14ten Mart. Anno 1726“ die Gesellenordnung als Aufsichtsbehörde endgültig in Kraft setzte. Das Dokument trug die Unterschrift „Bürgermeister und Rath hieselbst J. W. Baumann“.

Wie der Innungsbrief die Rechte und Pflichten der Meister enthält, so bildet diese Gesellenordnung sein Gegenstück. Es würde im Rahmen dieser Abhandlung zu weit führen, das Gesellen-Reglement in allen seinen Einzelheiten, so interessant sie auch als Beitrag zur Zeitgeschichte jener Tage sein mögen, aufzuführen. Wir können uns nur auf wenige wesentliche Bestimmungen beschränken. Interessant ist, daß auch die Gesellen ihre Lade hatten, daß auch ihre Zusammenkünfte — allerdings immer in Gegenwart des Innungsvorstandes und eines Vertreters der Obrigkeit — vor offener Lade durch geführt wurden, vor der „kein Geselle fluchen noch schweren, auch nicht ohne Erlaubnis aus der Stuben gehen“ durfte (Art. 33). Die Gesellen konnten sich nur „zwischen Jocobi und Michaelis umbsetzen“, sonst aber bei Strafe von vier ggr. ihre Arbeitsstätte innerhalb der Stadt Lüchow nicht wechseln (Art. 21). Ihr Verhalten gegenüber ihrem Meister und dem Altgesellen ist genauestens festgelegt.

Bei den sogenannten Krugtagen in der Herberge der Gesellen scheint es zuweilen sehr bunt hergegangen zu sein. Jedenfalls läßt die Vorschrift des Art. 30 mancherlei Rückschlüsse zu: „Wann etwa ein Geselle sich ungebührlich auf dem Kruge halten und übergeben würde, also daß ers nicht könte über des Krugvaters Steinweg bringen, der soll 4 ggr. Straffe erlegen.“ Und gleich im folgenden Artikel heißt es: „Es soll auch kein Geselle außer der Zeit freyen Montag machen, bey Straffe 5 ggr.“ Der „blaue Montag“ scheint einst eine große Rolle unter den Handwerkern gespielt zu haben, denn es gibt aus früheren Zeiten kaum eine Verordnung, in der er nicht ausdrücklich bei Strafe verboten wird.
Ganz besondere Beachtung aber verdient der letzte Artikel 36, der die wohl ältesten Bestimmungen über die Anfänge einer Gesellen-Krankenkasse enthält: „Wenn ein Geselle krank wird und hat nichts zu verzehren, so soll ihm aus der Lade vorgestrecket werden 6 bis 12 ggr. Komt er wieder auf, so soll ers bezahlen, stirbet er aber, und die Seinigen nicht abzureichen wären, so sollen ihme die Gesellen zu Grabe bringen, und sich an deßen Kleidern hernach halten.“

Die Krankenkasse der Leinenweber-Gesellen zu Lüchow

Diese ersten ganz allgemein gehaltenen Aufzeichnungen über eine Krankenfürsorge für die Leinenwebergesellen in Lüchow aus dem Jahre 1724 sind in den folgenden Jahrzehnten zu einer geradezu vorbildlichen und mustergültigen Pflichtkrankenkasse ausgestaltet worden, der man seine Achtung nicht versagen kann, immer und immer wieder ist an dieser sozialen Einrichtung der Lüchower Leinenweber gefeilt und ergänzt worden, bis schließlich ein Institut geschaffen war, das für seine Zeit als bahnbrechend und beispielhaft bezeichnet werden muß.

Am 1. März 1805 wurden folgende „Weber Gesellenn Kranckenn Artickel“ in Kraft gesetzt:
„1. Wenn ein Geselle Betlegerich krank wird so muß er sich den dritten tag bey den Altgesellen melden als dan wird der Altgeselle zu ihm gehen und sich nach seiner Krankheit erkundigen.
So soll er erstlig Wöchgentlich 6 gute gr erhalten bis die Bücks vorrätig ist als dan wan die Bück bis 10 Reichthaler gestigen ist so sol der genige Gesell alle Woche 12 ggr aus der Bücks empfangen.
2. Wann ein Geselle nicht Betlägerich ist der soll 3 gr empfangen wann aber die Bücks die 10 Daler vorrat hat so soll der Gesell 6 gr haben.
3. Wann ein Geselle krank wird und diese bey-steuer nicht hin reichen wolte und vorschuß in der lade wehren und er sich nicht anders halten könte so soll er vorßus aus der lade enpfangen es aber von seinen ersten verdinst wieder zu erstaten wenn er wieder besser wird.
4. Sollen die Gesellen alle Sontag nach den ersten 1 gr Krankengeld erlägen und sich des nachmittag um 3 uhr auf der herberge anzufinden bey Strafe 1 mariengr.“.Unterschrieben ist diese erste ausführliche Krankenkassen-Ordnung der Lüchower Leinenwebergesellen von dem Altgesellen Johann Joarg Hasenbein und folgenden Vorstandsmitgliedern der Leinenweber-Innung: Franz Heinrich Sägers, Altmeister; Johan Amt Burmeister, Gildemeister und Peter Pemöller, Lademeister.

Diese Krankenkassen-Ordnung von 1805 wurde im Jahre 1826 bedeutend erweitert und verbessert. Die neuen Bestimmungen wurden jedoch erst fünf Jahre später, am 27. November 1831, in einem Protokoll festgelegt, das folgendermaßen beginnt: „Die Brüderschaft der Drell- und Leineweber-Gesellen hat sich am Michaelis-Krugtage Eintausend achthundert sechs und zwanzig zur Pflicht gemacht, durch mehrere Auflagen ihre Lade zu verbessern, welches hauptsächlich aus dem Grunde berathen worden, wenn Krankheiten der Brüderschaft heimsuchen sollten“.

In den neun Punkten dieser neuen Ordnung wurde bestimmt: Jeder Geselle hat am ersten Sonntag eines jeden Monats zwischen 3 und 4 Uhr seinen Krankenkassenbeitrag von einem Gutengroschen in der Herberge, also im Hause auf der Insel, zu zahlen. Ist er verhindert, hat er durch einen anderen Gesellen den Betrag zu entrichten. Wer nicht erschien oder wer im Behinderungsfalle durch einen anderen nicht bezahlen ließ, hatte 1 ggr. Strafe zu entrichten. Die doppelte Strafe hatte der Altgeselle, an den die Beiträge abzuliefern waren, zu zahlen, wenn er nicht zur Zahlstunde kam oder sich durch einen Beauftragten vertreten ließ. Auch alle Strafgelder flössen der Krankenkasse zu, „weil alle gemeinschaftlichen Zechen und Zehren bei dieser Zusammenkunft gänzlich untersagt ist". Da lugte also schon wieder die Angst vor dem gefürchteten blauen Montag hervor. „Sollte aber dieses Geld zur Unterstützung der Kranken nicht hinreichend seyn, so soll nach Verhältniß der Umstände die Auflage vergrößert werden“.

Volles Krankengeld in Höhe von 16 ggr. sollte nur gegen ärztliches Attest gewährt werden. Ein Geselle, der ohne Hinzuziehung eines Arztes eine Krankheit „für sich zu curiren sucht“, erhält wöchentlich nur 8 ggr. Neu aufgenommen wurde in die Krankenkassenordnung die Bestimmung, daß ein kranker Geselle, der nicht bei seinem Meister im Hause bleiben konnte, nach der Herberge gebracht und dort von anderen Gesellen sowohl bei Tag als auch bei Nacht gewartet werden soll. Auch für die Zeit der Genesung soll „nach Befinden der Umstände“ eine Unterstützung gewährt werden. Der Altgeselle, der die Beiträge einzuziehen und die Kranken zu betreuen hatte, sollte nur die Hälfte des Auflagegeldes entrichten.

Aus dieser Neufassung der Gesellen-Krankenkassenordnung geht eindeutig hervor, daß diese Kasse hinfort sich durch Einnahmen und Ausgaben selbst tragen sollte, damit Vorschüsse aus der Lade nicht mehr nötig wären, Vorschüsse, die nach den Satzungen von 1805 der Geselle später zurückzahlen mußte. Von Rückzahlungen ist 1831 keine Rede mehr.

Das Protokoll der Michaelis-Krugtagversammlung der Leinenwebergesellen-Brüderschaft vom Jahre 1826 ist unterzeichnet von: Altgeselle H. A. Schulz, Lademeister Wilhelm Haacke, Gildemeister Friederich Otterburg, Altmeister Johann Schultz. Das Protokoll wurde genehmigt von J. F. Steiner als „Bürgermeister und zeitiger Beisitzer des Lein- und Drellmacher-Amts zu Lüchow“. Das beigedrückte Siegel trägt unter drei Rauten die Inschrift: Policey zu Lüchow.

Die Bestimmungen der Gesellen-Krankenkasse wurden in den Jahrzehnten nach 1826 noch mehrfach abgeändert und ergänzt. Am 12. August 1841 genehmigte die Landdrostei in Lüneburg eine ganz neue Satzung für die Lüchower Leinenwebergesellen-Krankenkasse, die 24 Paragraphen umfaßte. Nach dem § 5 dieser Satzung haftet der Meister „persönlich für solche Beiträge aller bei ihm in Arbeit stehenden Gesellen und muß unweigerlich für alle seine Gesellen zahlen, wenn diese erklären, ihre Beiträge nicht bezahlen zu können“. Die Leistungen der Kasse sind laut § 8 bedeutend erhöht worden. Die Kasse bezahlt nunmehr „für jeden erkrankten Gesellen die Kosten der Medicin, des Arztes und an den Herbergsvater für Zimmer, Wartung, Feuerung, Licht und Bette im Sommer wöchentlich 8—12 ggr, im Winter 1 Rth. 6 ggr. — 2 Rth. Courant. Außerdem werden jedem erkrankten Gesellen wöchentlich zu seinem Unterhalte 8 ggr — 1 Rth. Courant gut gethan, dem Gesellen aber nur ausbezahlt, wenn der Herbergs-Vater sich zuvor wegen des Unterhaltes des auf der Herberge krankliegenden Gesellen für befriedigt erklärt, entgegenstehenden Falls wird jener Betrag dem Herbergsvater in soweit, als dieser für den Unterhalt des erkrankten Gesellen an denselben Forderungen hat, behändigt“. Dem Vorstand der Kasse gehört jetzt auch ein besonderer Pflege-Geselle an. Ob wie bisher auch fernerhin der Altgeselle diese Funktionen wahrnahm, ist nicht festzustellen.

Diese Krankenkassen-Satzung wurde der Gilde am 9. September 1841 mit folgendem Zusatz ausgehändigt: „Der hiesigen Leineweber-Gilde wird vorstehendes, durch das Rescript Königlicher Landdrostei zu Lüneburg vom 12./19. des vorigen Monats August genehmigtes Reglement für die Krankenkasse der hiesigen Leineweber-Gesellen zur Nachachtung zugefertiget. Lüchow, den 9. September 1841. Bürgermeister und Rath. C. Thorwirth. F. W. Radack.“

Schon nach 3 1/2 Jahren genehmigte die Landdrostei in Lüneburg eine bedeutende Herabsetzung der Beitragssätze und eine Neufestsetzung der Leistungen der Krankenkassenordnung von 1841. Die wöchentlichen Beiträge wurden von 1 ggr 4 Pfg. auf 6 Pfg. gesenkt. Die wöchentliche Unterstützung einschließlich der Ausgaben für Medizin und Arzt wurde auf einen Reichstaler festgesetzt und bei Nichtheranziehung eines Arztes auf 8 ggr ermäßigt. Ferner wurden die Entschädigungen für den Rechnungsführer und den Pflege-Gesellen gekürzt. Diese Ergänzungen zur Satzung von 1841 wurden wiederum von Bürgermeister und Rat der Stadt Lüchow der Leinenweber-Innung am 14. März 1845 zugestellt.

Spinnstubenromantik

Der Lüchower Leinenwebergilde haben nach ihrer Gründung lange Zeit zunächst auch die Wustrower Leinenwebermeister und -gesellen angehört. Eine Trennung erfolgte erst mit der Gründung einer eigenen Leinenweber- und Drellmacher-Innung in Wustrow. Über die zahlenmäßige Stärke der Lüchower Innung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts liegen keine Angaben mehr vor. Im Jahre 1825 gibt die Innung selbst in einer Eingabe an die Königlich Großbritannisch Hannoversche Landdrostei zu Lüneburg 25 Meister als Mitglieder an, von denen sicherlich einige Landmeister waren. Eine 1860 aufgestellte Mitgliederliste verzeichnet 18 Lüchower und 7 Landmeister. Eine anscheinend einige Jahre später angefertigte Liste enthält insgesamt 28 Namen von Innungsmeistern, und zwar folgende 23 Lüchower Leinenwebermeister: Segers, Feilcke, Behncke (Insel), Otterburg, Haacke, Burmeister, Burmeister, Lüders, Hildebrand (wieder gestrichen), Jagow, Hacke, Burgis, Grote, W. Schultze, Grote, Heyer, Feilcke, Karsteinke, Schultz, Heinrich Behncke, Plasch, Heinrich Feilcke und Belitz sowie die fünf Landmeister Schäffer-Volzendorf, Bauch-Criwitz, Schmidt-Witzeetze, Gein-Witzeetze und Schultz-Volzendorf.

Die Leinenweber-Innung wird also um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine der stärksten, wenn nicht die stärkste Innung in der Stadt Lüchow gewesen sein. Die Meister verarbeiteten einmal ihnen von Privatpersonen gebrachtes Garn auftragsgemäß zu Leinen oder Drell, dann aber auch — und das war ihr Geschäft — aus eigenen Garnbeständen Verkaufsware. Die eigenen Familien konnten natürlich die erforderlichen Garnmengen nicht spinnen, so daß die Handwerksmeister auf dem freien Markte oder von anderen Familien in der Stadt und auf dem Lande, die zwar wohl noch an den Winterabenden Garn spönnen, dieses aber nicht oder nicht mehr selbst verwebten, beträchtliche Garnmengen zukaufen mußten.

Die Nachfrage nach Webegarn wurde also mit dem Aufblühen des Weberhandwerks von Jahr zu Jahr größer. Damit aber erschloß sich für viele Familien auf dem Lande eine neue Einnahmequelle. Der Flachsanbau wurde ausgedehnt, und in Häusern, in denen noch niemals ein Spinnrad gesurrt hatte, wurde nun fleißig gesponnen. In allen Dörfern rings um Lüchow schlossen sich die Bewohner an den langen Winterabenden zu fröhlichen Gemeinschaften zusammen. Bäuerin und Töchter, Mägde — kurz, Jungens und Deerns aller Alterklassen trafen sich abwechselnd in den Häusern und schufen etwas ganz Neues: die Spinnstuben. Sie wurden lange Zeit allabendlich zu kulturellen Mittelpunkten der Dorfgemeinschaft. Da wurde alles, was sich ereignet hatte, durchgehechelt, da wurde gescherzt und auch wohl einmal zu einer Ziehharmonika getanzt, da wurde aber auch erzählt aus dem deutschen Märchen- und dem heimatlichen Sagenschatz. Es ging auch wohl einmal derb und grob zu, es gab hier und da auch Auswüchse, die schließlich zu polizeilichen Bestimmungen führten. Das waren jedoch nur Ausnahmen. In der Regel begleitete ausgelassene Fröhlichkeit die fleißige Arbeit des Spinnens. Die Blütezeit des Leinenweberhandwerks wurde auch zur Blütezeit der Spinnstubenromantik.

Das gesponnene Garn brachte man in Lüchow auf den Markt oder verkaufte es unmittelbar an die Meister. Das Hausspinnen galt nicht als Gewerbe und war somit auch nicht anmelde- und steuerpflichtig. Ein Zuviel des Spinnens konnte es niemals geben, denn die Nachfrage nach Garn war meistens größer als das Angebot. Die Spinnstuben wurden die besten Helfer der Leinenwebermeister, doch bald auch, wie sich zeigen sollte, ihre Sorgenkinder. Mit der Nachfrage stieg der Absatz, mit dem Absatz stiegen die Preise. Wer wollte da den fleißigen Spinnerinnen verdenken, daß sie ihre begehrte Ware so teuer wie möglich an den Mann brachten?

Ganz besonders waren es Weber aus der benachbarten Altmark, die in das Wirtschaftsgebiet der Lüchower Leinenwebermeister kamen und in der Stadt sowie in den Dörfern sehr beträchtliche Garnmengen aufkauften, was natürlich auch ein Steigen der Preise zur Folge hatte. Aber nicht nur das! Die Salzwedeler kamen auch mit dem aus diesen Webegarnen hergestellten Leinen über die Landesgrenze und trieben mit den Stoffen einen schwunghaften Hausierhandel. Diese unliebsame Konkurrenz hat schließlich zu einem Notstand für die Lüchower Leinenweber geführt, die sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht fühlten.

1825: Ein Hilferuf an die Regierung

Deshalb entschloß sich die Lüchower Leinenweber-Innung zu einem Hilferuf an die Landdrostei in Lüneburg, in dem sie bat, daß den Salzwedelern das Garnaufkaufen sowie der Handel mit Leinen im hannoverschen Wendlande verboten würden. Diese „unterthänige Bitte und Vorstellung“ vom 11. Februar 1825 schildert die Notlage der Weber sehr anschaulich. Das umfangreiche Schreiben lautet:„Wir nahen uns Euer Hochwohl- und Wohlgeboren mit einer unterthänigen Bitte, deren gnädige Erfüllung und Gewährung das von uns gewichene Glück wieder zurückrufen, deren Versagung aber uns und unsere Familien einer trüben Zukunft aussetzen und mit der Zeit der bittersten Armuth und dem drückendsten Mangel hingeben wird.

Die Sache selbst ist folgende:

Wenn auch den dazu berechtigten Personen in hiesiger Stadt das Garnkaufen, wenn es ihnen gebracht wird, nicht verwehrt werden kann, so thuen uns doch die Preußen, vorzüglich die benachbarten Einwohner Salzwedels, den größten Schaden, wenn sie das von jenen gekaufte Garn in Quantitäten, ja sogar fuderweise, von hier ins Ausland wegholen, indem dann die Gelegenheit, gehörige Materialien zum Verweben anzuschaffen, uns gänzlich genommen wird, ebenso der hiesigen Legge entsteht daraus Nachtheil, da nun bei dem Mangel hinreichenden Garns um so weniger Leinen auf dieselbe geliefert werden kann. Ja, mit dem Aufkaufen des Garns in hiesiger Stadt nicht zufrieden, gehen die Preußen auf die benachbarten Dörfer, dringen den Bauern gleichsam in die Häuser, und beladen mit erkauftem Garne kehren sie in ihr Land zurück. Der Bauer wird dadurch wieder abgehalten, so aus seinem Garn gewebtes Leinen auf die Legge zu bringen, für uns wird das Garn durch den Aufkauf theuer gemacht, und die gewiß reichlicher vorhandene Arbeit, wenn jenes nicht geschähe, entzogen und unser Verdienst dadurch sehr verringert. Ja, was noch mehr ist, die Preußen, wenn sie mit jenem aufgekauften Garn in die Heimat zurückgekommen sind, verarbeiten dasselbe zu Leinwand, Drell und dergleichen und kehren dann mit diesen Producten nach Lüchow zurück und hausieren damit in hiesiger Stadt und der Umgegend. Auch dies äußert sich wieder sehr nachtheilig für uns, um so nachtheiliger und empfindlicher, da uns jegliche Gelegenheit genommen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Denn es ist uns verwehrt, und wir sind auf keine Weise berechtigt, z. B. nach Salzwedel Garn oder Leinen zum Verkaufe zu bringen, noch Garn dort zu kaufen, selbst wenn es versteuert worden.

Wie aber kann bei solcher Lage der Dinge sich für uns auf jeden einzelnen repartirt hinreichender Verdienst vorfinden, wie ist es möglich, daß bei den jetzigen an sich schlechten Zeiten von der wenigen übrig bleibenden Arbeit sich 26 Meister nebst ihren theilweise zahlreichen Familien hinreichend ernähren können? Unausbleiblich ist das Verderben, der Kampf mit Nahrungssorgen und das Elend vieler Familien, wenn die Verhältnisse so bleiben, wie sie jetzt bestehen.

Diese Gründe haben uns veranlaßt, folgende unterthänige Bitte bei Euer Hochwohl- und Wohlgeboren einzureichen:

daß künftighin alle Garnaufkäuferei auf dem Lande sowohl von In- als Ausländern sowie überhaupt das Verkaufen von Garn an die Preußen gänzlich und streng untersagt, den letzteren aber insbesondere, wenn sie mit dem verfertigten Leinen und Drell zum Verkaufen herumgehen, das Hausieren damit in hiesiger Stadt und auf den Dörfern bei Strafe verboten werde. J. A. Bösche.“

Schon am 17. Februar 1825 forderte die Landdrostei den Magistrat der Stadt Lüchow zu einer Stellungnahme zu dieser Eingabe der Innung auf. Weder diese Stellungnahme noch eine Entscheidung der Landdrostei über diese Eingabe liegen vor. Jedenfalls durfte gebleichtes und ungebleichtes sogenanntes Hausleinen weiterhin aus der Altmark steuerfrei ein geführt werden. Als in einer Eingabe vom 4. Dezember 1847 die Lüchower Leinenwebergilde gegen diesen Zustand Einspruch erhob, wurde dieser von der Königlichen Steuerdirektion in Celle am 13. April 1848 zurückgewiesen mit der Begründung, „daß die bisher bestandene Vergünstigung in gegenwärtiger Zeit nicht aufgehoben werden kann, sondern einstweilen bis auf Weiteres fortzubestehen hat.“

Bleichwiesen

Mit dem Weben des Leinens allein war es nicht getan. Das fertige Leinen mußte gebleicht werden. Dieses Bleichen besorgte anfangs in der Hausweberei jeder für sieh. Er spannte das Leinen auf einer seiner Wiesen aus und ließ Tag und Nacht, Sonne und Mond, Tau und Wind ihr wohltuendes Werk tun, bis die Stücke schneeweiß waren. Wer keine geeignete Fläche zum Bleichen hatte, gab sein Leinen einem Nachbarn ohne oder auch gegen Entgelt zur weiteren Behandlung. Hier und da bildeten sich aber frühzeitig auch schon Mietbleichen heraus.

Die gewerblichen Leinenwebermeister konnten sich aber um das Bleichen der von ihnen verfertigten Tuche nicht mehr kümmern Das führte allmählich zur Heranbildung eines neuen Handwerkes: des Bleichermeisters, der privat oder auch in öffentlichen Diensten sein Amt versah. Erforderlich war immer eine sehr große Wiese, auf der die langen Leinenstreifen ausgebreitet werden konnten. Täglich mehrmals wurden die Streifen mit Wasser begossen, bis sie nach etwa 14 Tagen oder auch nach längerer Zeit blütenweiß und damit verkaufsfertig waren.

Zu jeder ordentlichen Bleichwiese gehörte aber auch ein Bükhaus. das fast immer an einem Fluß - oder an einem Graben stand. In diesem Bükhaus wurde das Leinen vor dem Bleichen gebükt, d. h. in einem großen Bottich mit einer Lauge ausgekocht, damit auch der letzte Schmutz entfernt wurde. Nach dem Büken wurde das Leinen gewalkt, d. h. mit Stampfern ausgepreßt und abschließend gründlich gespült. Erst dann kam es auf die Bleichwiese.

Lüchow hatte nach den Angaben Karl Hennings' zwei solcher Bleichen, die in erster Linie dem Großhandel dienten. An sie erinnern noch heute die Straßennamen „An der Bleichwiese“ und „Bleicherstraße“, in der einst die Bleichermeister gewohnt haben. Beide liegen dicht beieinander. Heute liegen letzte Reste der einstigen großen Lüchower Bleichwiese verödet da. Kein Leinen ist mehr über ihre Flächen gespannt. Allenfalls weht jetzt hin und wieder frischgewaschene Wäsche über ihnen lustig im Winde. Auch um Lüchow herum gab es stattliche Bleichwiesen, so z. B. in Plate.
Die alte Amtsvogtei und das Zollhaus in Bergen (Dumme), in denen einst Carl Wilhelm König sein Willkürregiment gegen die Bürgerschaft und auch gegen die Leinenweber des Fleckens führte.
Von Amtsvogtei und Zollhaus hat Kurt Schmidt seinerzeit noch eine andere Einstellung fotografiert, die für den gedruckten Artikel nicht verwendet wurde.
In Bergen an der Dumme

Bis zum Jahre 1735 hatte nur Lüchow eine Leinenwebergilde. Was bis dahin sich aus dem Kreisgebiet zunftmässig organisieren wollte, konnte das nur durch einen Beitritt zu dieser Innung tun. Nun aber tat sich eine zweite Leinenweberzunft in der Südostecke des alten Kreises auf, in Bergen an der Dumme. Über diese Innung ist heute nichts, gar nichts mehr vorhanden, weder an Urkunden noch an alten Utensilien, obwohl doch gerade die Leinenweberzunft einst für den Ort von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Der Zahn der Zeit hat alles zernagt, menschliche Gleichgültigkeit alles in alle Winde verwehen lassen.

Und doch ist das Wenige, was wir aus anderen Quellen noch heute über die Geschichte der Berger Leinenweberinnung erfahren, von besonderem Interesse, weil wir aus ihm sehr anschaulich die Gründe entnehmen können, die zur Bildung dieser Innung geführt haben: Bitterste Not der Bevölkerung des Ortes hat an der Wiege der gewerbsmässigen Leinenweberei in Bergen Pate gestanden.

Nach schwersten Schicksalsschlägen im Laufe des 17. Jahrhunderts war die Berger Bürgerschaft durch Kontributionen im Dreißigjährigen Kriege und durch einen Riesenbrand, der den Ort in Schutt und Asche gelegt hatte, so verarmt, daß sie aus der Landwirtschaft allein ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnte. Auf ihr eindringliches Bitten hatte schließlich die Landesherrschaft der Bürgerschaft das Braurecht verliehen, um ihr dadurch eine neue Einnahmequelle und die Möglichkeit zur Abtragung drückender Schuldenlasten zu bieten. Doch die schwere Not zwang die Bürger, dieses Braurecht jahrelang ruhen zu lassen.Da aber holte plötzlich die Landesherrschaft in Hannover 1676 zu einem schweren Schlage gegen die Berger Bürgerschaft aus: sie errichtete neben dem Zollhause ein Vorwerk mit einem Amtsvogt und gleichzeitig auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Königliches Brauhaus. Das Baurecht übertrug sie auf den Amtsvogt. Gleichzeitig kündigte sie den Bürgern, die herrschaftliche Ländereien jenseits der Dumme in Pacht hatten, diese Ländereien und unterstellte sie der Bewirtschaftung durch den Amtsvogt. Diese Maßnahmen führten bald zu einer weiteren erheblichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse der gesamten Bürgerschaft.

Willkürherrschaft des Amtsvogts führt 1735 zur Gründung einer Leinenweber-Innung

Zwar hatte die Landesherrschaft mit der Bürgerschaft in einem Rezeß vom 13. Juni 1676 genaue Abmachungen über die Mitbenutzung der Almende, d. h. der Holzung, der Hut und der Weide, durch den Amtsvogt getroffen, doch wurden diese Bestimmungen schon bald von dem dritten Amtsvogt König in brutalster Weise unter dem Schein des Rechtes so sehr zu seinen Gunsten ausgenutzt, daß die aufs höchste empörte Bürgerschaft am 22. September 1746 in einer ausführlichen Anklageschrift gegen den Amtsvogt und Zoll Verwalter Carl Wilhelm König bei der Landesherrschaft vorstellig wurde.

Aus dieser noch im Originalentwurf vorliegenden Eingabe erfahren wir, daß die Errichtung eines Vorwerks in Bergen den letzten Anstoß zur Gründung einer Leinenweberinnung zu Bergen an der Dumme gegeben hat. In der Einleitung zu den 14 Beschwerdepunkten gegen das Willkürregiment heißt es u. a.:
„Es haben nun nachher sowoll die Pächter dieses Vorwerkes und Brauhaußes sieh darnach bestrebet, immer weiter die Gerechtsame der Bürgerschaft einzuschrenken, als auch ein und andere Neuerungen vorgenommen, wordurch die Einwohner des Fleckens deterioris conditionis (d. h. minderen Rechtes) geworden und größtentheils ihrer Hände Arbeit und von Handwerkern, insonderheit dem Leineweben ihr Brod suchen müßen.

Königl. hochverordnete Landes Regierung hat also vor dieselbe die Gnade gehabt und Ihnen im Jahr 1735 ein privilegium vors Leineweber-Handwerk gegeben, damit Sie Gesellen halten und Knaben auslehren können."

Auf Grund dieser königlichen Erlaubnis wurde dann nach Erledigung der erforderlichen Vorbereitungen 1736 die Berger Leinenweberinnung gegründet. Das wird eindeutig bestätigt durch das Dienstsiegel dieser ehemaligen Innung, dessen Abdruck sich noch auf einem erhaltenen Lehrbrief befindet. Dieses Siegel führt im kreisrunden Mittelfeld zwei Webeschiffchen über Kreuz mit einer Krone darüber. Die äußere Umschrift lautet: „Leinwebergilde Bergen an der Dumme". Links innen steht außerdem „Anno 1736", womit das Gründungsjahr angegeben ist.

Kälberschlacht in der Bleichwiese

Die Leinenweberei sollte der wirtschaftlich schwer betroffenen Bürgerschaft neue Verdienstmöglichkeiten erschließen. Um den Handel mit Leinen noch mehr zu fördern, legte wenige Jahre später die Bürgerschaft auf einstimmigen Beschluß mit nicht unerheblichen Kosten eine Fleckensbleiche an, indem sie eine morastige Gänseweide durch Befahren mit Sand und durch Herumziehen eines Grabens trockenlegte. Diese öffentliche Bleichwiese erregte den höchsten Zorn des Amtsvogts König, der, wie es scheint, trotz seines harten Regiments gegen die Berger Bürger in seinen eigenen vier Wänden nicht allzu viel zu melden hatte.Die Frau des Amtsvogts König hatte nämlich eine Privatbleiche, auf der sie für jedes Stück Leinen, das ihr die Bürger zum Bleichen brachten, 1 1/2 Gutegroschen als Entgelt nahm. Nach Ansicht der Bürgerschaft hat ihr dieses Privatgeschäft jährlich über 30 Reichstaler eingebracht. Frau König sah also in der neuen Fleckensbleiche sehr bald eine recht unangenehme Konkurrenz und hetzte ihren Mann, den Amtsvogt, gegen diese und damit gegen die gesamte Bürgerschaft auf.

Das Bleichen von Leinen begann im allgemeinen alljährlich am 25. März und dauerte den ganzen Sommer hindurch. Solange aber gebleicht wurde, konnte diese Wiese selbstverständlich nicht für das Hüten von Tieren freigegeben werden.
Was aber tat der Amtsvogt Carl Wilhelm König in seiner Niederträchtigkeit? Hören wir die Bürgerschaft in ihrer Anklageschrift aus dem Jahre 1746:

"... . . weil . . . das Graß auf der Wiesen (der Bleiche der Frau König) auch desto beßer wegen Begießung gewachsen, folglich die jetzt angelegte publique Fleckens-Bleiche seinem privat-Nutzen geschadet, hat Er unter dem Vorwande: als wann ihm auf dem Orte der allgemeinen Bleiche ratione der Vorwerks-Pachtung die Huth und Weyde gemeinschaftlich mit gehöre, den 23. July 1744 seine Kälber de facto auf diese Weyde treiben laßen, obgleich noch einige Stück Linnen darauff gelegen, und uns solches rüiniret, dahero wir ihm die Kälber, zumahl da wir nicht einmahl solche selber mit unserem eigenen Vieh betrieben und die Bleiche noch nicht selbst zur gemeinsamen Huth und Weyde wieder offen gegeben, pfänden laßen, die Kälber sind ihm aber ohne Pfandgeld restituiret; worüber Er bey Ankunft der Lüchowischen Beambten zu gedachtem Bergen Beschwerde geführet, welche Uns dan die Aufhebung der Bleiche befohlen und den um solcher gewordenen Graben wieder zuwerffen laßen, weil die Machung der Bleiche ohne vorher eingeholeten Landesherrlichen consens (Zustimmung) gemachet, und weil der Voigt vorgegeben, als wann seine Kälber durch pfänden Schaden genommen, bey dem am 28. January c. a. abgehaltenen Vorgerichte mit 12 rth. ins Land Gerichte geschrieben, worüber wir mit gedachtem Voigt und Zollverwalter beym Ambte und hernach per appellationem beym Land Gerichte in prozeß gerathen.“

Damit war schon nach wenigen Jahren auf Betreiben der Frau des Amtsvogts König die Berger Bürgerschaft ihre mit viel Unkosten hergerichtete öffentliche Fleckensbleiche los und sollte außerdem noch eine harte Strafe zahlen. Doch sie nahm diese Entscheidung keineswegs gelassen hin, sondern sah in diesem Rechtsstreit einen willkommenen Anlaß, nun ihrerseits mit 14 schweren Anklagen zum Generalangriff gegen das Willkürregiment des Amtsvogts Carl Wilhelm König überzugehen.

Gegen die Schließung der Fleckensbleiche und die Strafe von achtzehn Reichstalern erhob sie beim Landgerichte mit einer Eingabe vom 4. August 1746 Einspruch und erreichte, daß der Geheime Kammerrat Freiherr v. Abedyl aus Billigkeitsgründen die Zahlung der Strafe aussetzte. Ferner ersuchte die Bürgerschaft auf ausdrückliches Anraten des Freiherrn v. Abedyl „bey der hohen Landesregierung“ um Entsendung einer „generalen comission“ zur Nachprüfung aller Beschwerden über den Amtsvogt König. Die Berger Bürger zielten auf eine Generalbereinigung des Verhältnisses zwischen Bürgerschaft und Amtsvogtei hin und drängten vor allem auf eine genaueste Klarstellung der Rechte und Pflichten des Amtsvogts König aus dem Rezeß vom 13. Juni 1676. Sie verlangten für sich dasselbe Recht auf eine öffentliche Bleiche, „wie alle Städte und Flecken oder communen im Lande einen Ort aus der Gemeinschaft zur publiquen Bleiche haben“, und gaben dieser Forderung besonderen Nachdruck durch die Bemerkung „da doch unser größter Verkehr im Leinemachen und Weben besteht“. Gleichzeitig holte die Bürgerschaft Versäumtes nach: „Wolte Er etwa hiergegen objiciren, wir wären nicht darzu befugt, aus eigener Bewegung dergleichen Bleiche aus der Gemeinheit zu machen, es sey dan, daß solche Landesherrlich consentiret werde, so kommen bey Ew. Excellenc: wir desfals supplicando (mit der Bitte) ein: daß uns solche Bleiche gleichwie andern Flecken und Städten im Lande Landesherrlich consentiret und dieses bey künftiger Commission reguliret werden möge“.

Ob und wann die Berger Bürgerschaft eine öffentliche Bleiche zurückerhalten hat, ist nicht bekannt, ebenso wenig, wo die erste öffentliche, aus einer Gänseweide geschaffene Bleichwiese gelegen hat. Das Wohlwollen des Landgerichtes läßt jedoch den Schluß zu, daß in dem Rechtsstreit um die Bleichwiese der Amtsvogt schließlich auf der Strecke geblieben ist. Daß die Bürgerschaft schon bald nach der Gründung einer Leinenweberinnung für eine öffentliche Bleiche sorgte, läßt erkennen, wie sehr ihr an einem Aufblühen des Handwerks lag. Hinzu aber kam, daß ja die große Mehrheit der Bürger selbst, die bisher als Bauern ihr Land bestellten, nun Leinenweber wurde, um sich aus diesem neuen Handwerkszweig ihren Lebensunterhalt zu sichern und darüber hinaus aus dem Leinenhandel durch Minderung der Schulden der Gesamtbürgerschaft den Wohlstand des Fleckens zu heben.

Leinenweber fast Haus bei Haus

Tatsächlich nahm dann auch die Leinenweberei in Bergen an der Dumme sehr schnell einen ungeahnten Aufschwung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zählte man nach alter Ueberlieferung im Orte 45 Leinenwebermeister, zu denen weitere Weber und Weberinnen kamen. Webstühle klapperten in fast allen Häusern. Über ein Jahrhundert lang kam für die Berger zuerst die Leinenweberei und erst dann die Landwirtschaft. Die Leinenweberinnung bestimmte das Wirtschaftsleben des Fleckens. Sie blieb bis zuletzt die stärkste Zunft des Ortes. Natürlich hatte auch Bergen eine Gesellenherberge, in der sicherlich auch die Innungstagungen abgehalten wurden. Ob diese Handwerkerherberge von Anfang an im Hause Breite Straße Nr. 30 oder erst nach dem großen Brande von 1840 dort ihre Bleibe hatte, läßt sich nicht mehr feststellen. Von Bergen sind viele tüchtige Leinenwebergesellen in die weite Welt hinausgezogen. Gesellen, die bei Berger Meistern in die Lehre gegangen waren, wurden überall mit offenen Armen aufgenommen, denn das Berger Leinen war das beste im Kreise hergestellte Gewebe und hatte es zu Weltruf gebracht.

Die Leinenweberei hat einmal jahrzehntelang nicht nur die Geschicke des Fleckens Bergen an der Dumme, sondern sogar die Aufteilung des Raumes in den Bürgerhäusern entscheidend bestimmt. Heute mögen viele bei den breiten und tiefen Fluren in manchen Bürgerhäusern von Raumverschwendung sprechen, aber als man nach dem großen Brande vom 2. Mai 1840 an den Wiederaufbau des Ortes ging, da hat das Leinenweben diese Bauart gefordert, um Platz für die großen Webstühle zu schaffen. Die riesigen Dielen hinter der Haustür hatten also durchaus einen zweckmäßigen Sinn.

Und dann kamen die Juden

Die gute Qualität der Berger Leinwand machte sie sehr bald zu einer begehrten Handelsware, und zwar nicht nur im Inlande, sondern auch im Auslande. Das rege Wirtschaftsleben, das die aufblühende Leinenweberei zur Folge hatte, muß schnell weithin bekanntgeworden sein, denn gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte der kleine Ort Bergen etwas Unvorhergesehenes. Juden kamen von weither, siedelten sich an und trieben Leinenhandel. Wie jeder neuzugezogene Einwohner erschienen auch sie vor dem Bürgermeister und den Viertelsmännern und leisteten ihren Bürgereid, ohne den sie kein Geschäft eröffnen durften. Das alte Berger Ratsbuch von 1551 hat bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts alle Bürgereide verzeichnet. Da lesen wir unter dem 3. Oktober 1814, daß Levi Herz, gebürtig aus der Schweiz, seinen Bürgereid abgelegt hat. Am 22. Dezember 1815 folgte der Schutzjude Meyer, Baruch aus Nebaeh (?) bei Bamberg aus dem Würzburgischen. Am 12. Oktober 1817 erschien Samuel Schümann aus Wilsnack. Schon früher waren die Herzfelds eingewandert.Es heißt, daß in den Tagen der höchsten Blüte 24 Leinenhändler in Bergen ansässig gewesen seien. Die Juden aus dem Stamme der Semiten, seit den Tagen der Phönizier ein bekanntes Händlervolk, werden dem Leinenhandel im Orte infolge ihrer weltweiten Beziehungen einen besonderen Aufschwung gebracht haben. Berger Leinen fand reiche Abnahme in Hamburg, von wo es als begehrter Exportartikel nach England und Übersee ging. Es muß zur Blütezeit des Leinenhandels in Bergen eine beachtliche jüdische Gemeinde im Orte gegeben haben, denn Bergen war die einzige Ortschaft im Altkreise Lüchow mit einem Judenfriedhofe, dessen Reste bis zum 1. Weltkriege noch erhalten waren. Heute ist von jener Stätte hinter dem Taternberge am Rande der Fuhren nichts mehr erhalten. Der letzte in Bergen an der Dumme geborene Jude Harry Herzfeld lebt heute in hohem Alter in New York.
Der Lehrbrief für den Leinenwebergesellen Heinrich Plasch, der vom 12. Juni 1812 bis zum 18. Juni 1824 bei dem Leinenwebermeister Christian Kühlitz in Bergen an der Dumme das Handwerk erlernt hat. Dieser von der Berger Leinenweberinnung ausgestellte Brief ist von zwei Innungsmeistern und dem Amtsvogt v. Reck, der als Aufsichtsbeamter das Dienstsiegel der Innung verwahrte und allein mit diesem Siegel beurkunden durfte, unterzeichnet worden.
Ein Lehrbrief

Man wird es heute nur einem Zufall Verdanken, wenn man noch einen Originallehrbrief für einen Leinenwebergesellen zu sehen bekommt. Wenn ein Geselle seine Meisterprüfung ablegen wollte, mußte er seinen Lehrbrief bei der Innung, bei der er die Prüfung machen wollte, vorlegen und auch seine vorgeschriebenen Wanderjahre nachweisen. In der Praxis jedoch war es vielfach so, daß, wie zahlreiche in der Lade der einstigen Lüchower Leinenweberinnung verwahrte Schreiben bezeugen, der behördliche Vertreter des Lehrortes als staatlicher Beauftragter die genaue Lehrzeit des Gesellen der Innung mit allen erforderlichen Angaben bestätigte. Darauf konnte der Geselle in die Meisterprüfung gehen.

Es muß dahingestellt bleiben, ob überhaupt Junggesellen sich nach Beendigung der Lehrzeit — etwa wegen der damit verbundenen Kosten — einen Lehrbrief ausstellen ließen. Als der Geselle Christoph Heinerich Plahsch, der bei dem Leinenwebermeister Christian Kühlitz in Bergen an der Dumme das Handwerk erlernt hatte, genau zehn Jahre nach Beendigung seiner Lehrzeit sich bei der Lüchower Innung zur Meisterprüfung melden wollte, ging er zuvor mit seinem Lehrmeister Kühlitz zum Berger Innungsmeister Johann Kräbel und ließ sich eine Kopie seines Lehrbriefes ausfertigen.Diese Kopie, die wir im Bilde zeigen, hatte folgenden, zu damaliger Zeit üblichen weitschweifigen und schwülstigen Wortlaut:

Copia

Wir Älteste und andre Meister des Hochlöblichen Amts derer Drell und Leineweber in der Königlich-Großbrittanisch- und Churfürstl. Braunschweig - Lüneburgischen belegenen Flecken Bergen a. d. Dumme Thun, nebst Anerbietung unserer bereitwilligsten Dienste nach eines jeden Standes Gebühr, Krafft dieses, hiermit kund, daß vor uns der Leineweber Gesell Christoph Heinerich Plahsch erschienen mit dem ehrbaren und geachten Mittmeister Christian Kühlitz welcher bekandt und ausgesaget, daß Vorzeiger dieses der Drell und Leineweber Gesell Christoph Heinerich Plahsch gebürtig aus Bergen a. d. Dumme daß Leineweber Handwerk Drey Jahr aneinander, nach Vorschrift des uns allergnädigst ertheilten Pivilegii, als vom 12ten Juny 1821 bis 18ten Juny 1824 erlernet, und sich in seinen Lehrjahren nicht allein ehrlich, redlich, fromm und treu gegen seinen Lehrmeister sondern auch gegen löbliche Gewerk und sonsten gegen jedermänniglich, dergestalt wie einem Gottesfürchtigen und ehrlichen Jungen wohl anstehet und gebühret, verhalten hat. Da nun dieses, wie auch selbst bewußt, allermassen wir es in unserer Drell und Leineweber Amts Lade also löblichem Gebrauch nach, aufgezeichnet gefunden, der Wahrheit gemäß, und Vorweiser dieses, Namens Christoph Heinerich Plahsch uns um einen Lehrbrief unter unserm Leineweber Amts Siegel gebührend ersuchet; Als haben wir dessen Ansuchen der Billigkeit gemäß und zur Steuer der Wahrheit gebührend statt gegeben; Gelanget derowegen an alle und jede nach Standes Erforderung, denen dieser Lehr-Brief vorgezeiget wird, absonderlich an alle Meister diese Profeshion auch derer zugethane Gesellen, unser gehorsamstes dienst-und freundliches Bitten diesem unserm Lehr - Briefe guten Glauben zu geben, und denselben mehrgemeldten Christoph Heinerich Plasch wegen seines ehrlichen Lebens und Wandels, auch vollkommen ausgestandener Lehr-Zeit fruchtbarlich geniessen zu lassen, und sich überall gegen denselben günstig und willfährig zu erzeigen, welches Er vor seine Person mit schuldigstem Danck erkennen, und wir in dergleichen und andern Fällen nach Möglichkeit zu verschulden erböthig und bereit seyn. Zu Urkund dessen haben Wir itziger Zeit das die Alterleute diesen Lehr-Brief eigenhändig unterschrieben und mit unserm gewöhnlichen Drell und Leineweber Amts Siegel bekräftiget. So geschehen Bergen an der Dumme den 1ten Januar 1834.

Alt-Meister Johann Kräbel
Gilde-Meister J. H. Holzhausen
v. Reck, Amts-Beysitzer. (Siegel.)

v. Reck war damals Amtsvogt in Bergen und der behördliche Aufsichtsbeamte für die Leinenweberinnung, deren Dienstsiegel er verwahrte. Christoph Heinerich Plahsch wurde nach bestandener Meisterprüfung Mitglied der Lüchower Leinenweber- und Drellmacherinnung und übte in Lüchow sein Handwerk aus.

Worin bestanden nun 1824, als Christoph Heinerich Plahsch in Bergen (Dumme) seine Gesellenprüfung ablegte, und 1834, als er sich in Lüchow zur Meisterprüfung anschickte, Gesellen- und Meisterprobestücke für das Leinenweberhandwerk? In einem gedruckt vorliegenden „Ausschreiben, betreffend die Prüfung der Handwerkslehrlinge vor ihrer Lossprechung als Gesellen“, vom 18. November 1839 bestimmt - die Königlich Hannoversche Landdrostei zu Lüneburg folgendes Probestück für Gesellen:

„43. Für die Weber. (Leine- und Drell-) Zehn Ellen Leinewand zu weben, nachdem das Garn aufgebäumt worden ist, oder zehn Ellen Drell."

Die Elle war ein früheres Längenmaß, das im allgemeinen an der Länge des Armes über den Ellenbogen gemessen wurde, doch schwankte in den einzelnen deutschen Ländern die Länge. Eine hannoversche Elle maß 0,5842 Meter."

43. Für die Weber. (Leine- und Drell-) Ein Stück Leinewand oder ein Stück Drell mittlerer Feinheit."

Später, am 17. Oktober 1847, ist nach einem Schreiben des Magistrates der Stadt Lüchow an die Leinenweberzunft in Lüchow für Landmeister, die der Innung beitreten wollten, diese Bestimmung dahingehend abgeändert worden, daß für die Weber "ein Stück ordinairen Tisch- oder Bett-Drell" als Meisterstück festgesetzt wurde.

Über das Ende der Leinenweberzunft in Bergen, über das Wann und Wie läßt sich nichts mehr feststeilen. Von steiler Höhe ist sie unter der Wucht des heraufsteigenden Zeitalters der Maschinen jäh in die Tiefe gestürzt worden, genau wie alle anderen Leinenweberinnungen. Maschinen arbeiteten weit schneller und billiger als Menschenhände. Gegen diese Konkurrenz waren die handwerklichen Leinenweber sehr bald machtlos. In einem Personenverzeichnis der Gemeinde Bergen a. d. D. für das Veranlagungsjahr 1894/95 finden sich unter insgesamt 980 Einwohnern noch ganze sechs Weber: Heinrich Dresch (Hausnummer 4), Friedrich Hick (Nr. 26), Heinrich Meyer und Carl Lüdemann (Nr. 52), Wilhelm Boneick und Dietrich Dresch (Nr. 61). Leinenhändler gab es nur noch einen: Friedrich Dittmer (Neue Straße Nr. 100), Bleicher war damals noch August Müller (Nr. 64), und als Färberin wurde Luise Probst (Nr. 76) genannt. Sie waren die Letzten am Orte, die aus der Leinenweberzunft mittel- oder unmittelbar ihren Nutzen zogen.
Das 1945 endgültig verschwundene ehemalige Bükhaus zu Bergen an der Dumme, in dem einst das Leinen gebükt und gewalkt wurde, ehe es auf der großen Wiese hinter dem Hause zum Bleichen ausgespannt wurde.
Bükhaus und Leinenbleiche in Bergen an der Dumme

Die letzten Zeugen, die die Erinnerung an die große Zeit der Leinenweberei in Bergen an der Dumme wachhielten, waren das Bükhaus und die riesige Bleichwiese an der Dumme. Die heutige Jugend weiß von ihnen nichts mehr, aber die älteren Berger haben sie noch gekannt. Beide haben jahrzehntelang das Handwerk überdauert. In unmittelbarer Nähe des Bükhauses „hinter der Drift“ befand sich früher ein beliebter Badeplatz. Auf der Bleichwiese standen zwei kleine Fachwerkhäuschen mit Ausgucklöchern, in denen vor allem nachts die Wächter auf das weithin ausgespannte Leinen achteten. Im Laufe der Zeit sind auch sie verfallen und schließlich völlig „demontiert“. Nicht anders ging es mit dem Bükhaus. Es verfiel in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr, und 1945, als nach dem Zusammenbruche alles Mangelware wurde, fanden sich Liebhaber für seine Reste. Letzter Bleicher in Bergen war Heinrich („Hinnerk“) Müller.

Bergen galt lange als der Ort der Leinenweber und des Leinenhandels im Altkreise Lüchow. Vielleicht ist es auch darauf zurückzuführen, daß Ernst Reinstorf in seiner „Kulturgeschichte des Lüneburger Landes“ (S. 96) namentlich nur Bergen an der Dumme, nicht aber weitere Orte erwähnt: „Besonders im Wendlande wurde auch Leinen zum Verkauf hergestellt, in einzelnen Haushalten jährlich 2000 Ellen. In Bergen an der Dumme waren um 1650 (Anm.: doch wohl erst 1750!) in 88 Häusern 53 Leinwebermeister mit über 100 Webstühlen. 1735 bestand dort eine Leinwebergilde. Im Amt Lüchow wurde um 1800 für 24.000 bis 36.000 Taler Leinen verkauft.“ Berger Leinen gewann Weltruf. Im Jahre 1876 erhielt die Firma Brohme & Co. in Bergen auf der Weltausstellung in Philadelphia (USA) für ausgestellte Leinwand einen Preis.

Doch neben Lüchow und Bergen an der Dumme gab es einen dritten Platz im Altkreise Lüchow, in dem das Leinenweberhandwerk lange Zeit eine führende Rolle gespielt hat: Wustrow.

Aller guten Dinge sind drei! Als dritte und jüngste Leinenweberinnung im Altkreise Lüchow kam die zu Wustrow hinzu. Seit wann es in Wustrow berufsmäßige Leinenweber gab, ist ebenso wenig festzustellen wie in Lüchow und Bergen/D. Die Wustrower Leinenwebermeister und auch ihre Gesellen schlossen sich schon früh ihren Berufsgenossen in Lüchow an.

Als sich 1724 die Lüchower Leinenwebergesellen eine eigene Ordnung gegeben hatten, für die, wie berichtet, Dannenberg das Vorbild geliefert hatte, traten in den folgenden Jahren über die Auslegung einzelner Bestimmungen wiederholt Meinungsverschiedenheiten auf. Durch Innungsbeschlüsse versuchte man dann einheitliche Auffassungen herbeizuführen.

In der Originalniederschrift des „Reglements der Leineweber Gesellen“ zu Lüchow aus dem Besitze der Lüchower Innung finden wir als Anhang zwei Niederschriften solcher Innungsbeschlüsse, von denen uns die zweite besonders interessiert
Sie lautet:

„Actum Lüchow d. 27. Juny 1735,
kam bey Zusammenkunft sowoll der einheimischen als ausländischen Meister zur quaestion wegen der Schenkung der Gesellen

1. Ob nach Handwerks Gebrauch ein Meisters Sohn vom Schenken bey der Gesellen Auflegung frey,

2. Ob die Wustrauer und andere auswartigen Gesellen wann sie bey den Gesellenauflegen gegenwärtig kommen, und die jüngsten sein, so dann schenken, oder wie der Altgesell zu Lüchow allemahl gegenwärtig sein, auch die Luchauschen Gesellen dahero den jüngsten ausmachen müßen, worauf nach geschehener umfrage beschloßen ward,

1. daß die Meister-Söhne, wie in andern Städten, also auch alhie auf den Gesellen Krug-Tagen von schenken frey sein, und dieses so wol vor die Lüchausche, als Wustrowische, und andere Meister Söhne gelten solle,

2. bei den Auflegen, wer von den Gesellen als jüngster gegenwärtig, er sey Lüchauscher oder Wustrauscher oder sonst auswärtiger Geselle, dieser schenken, und zwar der jüngste, deswegen nicht a part ausbleiben solle, es wäre dann, daß er entweder krank, oder wegen starker Werbung nicht sicher hieher kommen könne.

3. Weil der Altgesell nach Handwerks-Gebrauch denen Reisenden, um Arbeit schauen muß, dieser allemahl unter den Lüchowischen Gesellen seyn solle."Hier werden also die Wustrower Gesellen neben anderen auswärtigen ausdrücklich erwähnt, was darauf schließen läßt, daß sie in beachtlicher Stärke der Lüchower Gesellen-Bruderschaft angehört haben. Bei den Krugtagen sollte mithin der jeweils jüngste Geselle, woher er auch war, den Kellner spielen, während der Altgesell immer nur ein Lüchower sein konnte.
Wustrower Innung seit 1765

Als dann später in Wustrow die Zahl der Meister und Gesellen anwuchs, suchte man dort um Genehmigung einer eigenen Innung nach. Diese wurde dann im Jahre 1765 gegründet. Die Niederschrift darüber liegt nicht mehr vor, doch trägt das Siegel der Wustrower Leinenweberinnung genau wie das der Berger Innung das Gründungsjahr. Dieses Siegel der Wustrower Innung zeigt in der Mitte eine in Form eines Dreiecks von drei Webeschiffchen umrahmte blühende Flachspflanze, außerdem oben eine Krone. Die Inschrift lautet: „Sigel zu Wustro + 1765 +“. Sie nennt also keinen Innungsnamen wie die Siegel der Lüchower und Berger Gilden.

Mit dieser Selbständigmachung der Wustrower war zwangsläufig die Trennung von den Lüchowern vollzogen. Man traf in freiwilliger Vereinbarung ein dahingehendes Abkommen, daß von nun an Gesellen, die Landmeister werden wollten, der Innung des Amtsbezirkes, in dem sie ihren Wohnsitz nehmen, beitreten sollten. An diese Vereinbarüng hat man sich anscheinend lange Jahre auf beiden Seiten gewissenhaft gehalten.

Den Lüchower Leinenwebern hat aber der Auszug der Wustrower Berufsgenossen nicht gepaßt. Für sie bedeutete dieses Ausscheiden eine empfindliche Schwächung ihrer Innung. Und als dann gar im Laufe der Jahre die Wustrower Leinenweberinnung zu beachtlicher Stärke anwuchs, da regte sich in Lüchow der Neid. Man beobachtete das Tun der einstigen Weggenossen sehr aufmerksam und suchte nach Gründen, wie man den Wustrowern Schaden zufügen und Schwierigkeiten machen könnte.

Wann erstmalig Spannungen zwischen beiden Nachbarinnungen auftraten, läßt sich an Hand der wenigen Urkunden aus der Lüchower Innungslade nicht erkennen. Immerhin geht aus diesen wenigen Schriftstücken einwandfrei hervor, daß in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein von den Lüchower Leinenwebern immer wieder geschürter frisch-fröhlicher Krieg zwischen beiden Gilden geführt wurde.

Als sich Anfang 1839 der Leinenwebergeselle C. Fischer in Schweskau zur Aufnahme in die Wustrower Innung meldete, nahmen das die Lüchower zum Anlaß einer Vorstellung bei der Landdrostei in Lüneburg, von der sie forderten, „auch die von der Leinewebergilde zu Wustrow beabsichtigte Aufnahme des Leinewebergesellen Fischer aus Schweskau zu inhibiren und derselben für die Zukunft die Reception von Landmeistern aus dem Amte Lüchow bei Strafe zu untersagen". Man begründete diese Bitte mit der erwähnten Vereinbarung zwischen beiden Innungen und warf den Wustrowern offen vor, daß sie im Gegensätze zu den Lüchowern „dieser gewiß in mehrfacher Observanz zuwider in neuerer Zeit ab und an einzelne in dem Amte Lüchow wohnhafte Landmeister in ihre Gilde aufgenommen" haben. Da eine entsprechende Beschwerde über den Fall Fischer-Schweskau beim Amte Wustrow von diesem völlig unbeachtet geblieben war, den Lüchowern aber „an der Aufrechterhaltung der fraglichen Observanz sehr gelegen ist, indem Wir bei dem Bestehen derselben auf die leichteste Weise jeder Pfuscherei vorzubeugen im Stande sind, auch gewiß sehr wünschenswerth erscheint, daß sämmtliche Mitglieder einer Gilde möglichst einer und derselben Obrigkeit unterworfen sind“, verlangten sie nunmehr von der Regierung in Lüneburg, daß die auf gegenseitigem Übereinkommen beruhende Absprache zwischen der Lüchower und der Wustrower Innung „ausdrücklich sanctio-nirt werde“.

Diese lendenlahme und wenig überzeugende Begründung hat auf die Lüneburger Landdrostei wenig Eindruck gemacht. Auf die Lüchower Beschwerde vom 9. April 1839 ging nach zwei Monaten eine klare Ablehnung ein. In ihrer Antwort vom 3. Juni 1839 stellte die Regierung fest, daß zu der Aufnahme eines Landmeisters sowohl bei der Lüchower als auch bei der Wustrower Leinenwebergilde in jedem einzelnen Falle die ausdrückliche Erlaubnis der Königlichen Landdrostei erforderlich ist und „daß eine Bestimmung, wodurch die Leineweber in den Aemtern Lüchow und Wustrow, falls solche die Landmeisterschaft gewinnen wollen, verpflichtet werden, sich der einen oder anderen der genannten Gilden je nach Maßgabe ihres Wohnortes anzuschließen, nicht zu erlassen steht“.

Der wahre Grund für das kleinliche Vorgehen der Lüchower war zweifellos ein anderer: Sie, die älteste Leinenweberinnung, die einst das einzige Sammelbecken aller zunftmäßig organisierten Meister des größten Teiles des Altkreises Lüchow war, sah sich von der Wustrower Innung, die 30 Mitglieder hatte, plötzlich überflügelt. Ihre alte Anziehungskraft hatte nachgelassen. Die Lüneburger Absage mußte die Verbitterung gegen den Wustrower Rivalen vertiefen. Lüchows Leinenweber ließen sich immer mehr auf den Weg einer Nadelstichpolitik gegen die Wustrower Innungsmeister treiben.

Als der Leinenweber Christoph Schulz in Volzendorf sich zur Meisterprüfung melden wollte, bat er zuvor bei der vorgesetzten Behörde, ihm die fehlenden Wanderjahre zu erlassen. Am 15. Mai 1869 erteilte ihm im Auftrage der Lüneburger Landdrostei das Gericht Gartow diesen Dispens „behüt Gewinnung des Ländmeister Rechts bey der Leineweber Gilde zu Wustrow oder Lüchow“. Die freie Wahl der Gilde wurde ihm also ausdrücklich zugestanden. Das war eine eindeutige und klare Zurückweisung der Wünsche der Lüchower Gilde auf örtliche Begrenzung der Zugehörigkeit zu dieser oder jener Innung.

Die Lüchower geben keinen Frieden


Also suchten die Lüchower nach neuen Gründen, um den Wustrower Berufsgenossen Schwierigkeiten zu machen. Eines Tages erhoben sie in Lüneburg Klage darüber, daß die Wustrower Innung die Bestimmungen über das Halten von Lehrlingen nicht einhalte. Darauf wurden die Wustrower Alt- und Lademeister Bahlke und Hennings zum 8. November 1842 zu einer Verhandlung beim Amte vorgeladen. In dem Protokoll über ihre Vernehmung heißt es:

„Wir gestehen es ein, daß der Leinewebermeister Fischer in Simander auf Michaelis d. J. einen zweiten Lehrling hat hier einschreiben lassen, obgleich er schon einen Lehrling hat; wir läugnen, daß Fischer drei Lehrlinge hat. Wir gestehen, daß nach unseren Privilegien ein jeder Meister nur einen Lehrling halten soll.

Wir vermeinen, daß wir durch das Zulassen des zweiten Lehrlings bey Fischer in Simander nicht gegen die Bestimmung unserer Privilegien gehandelt haben, weil dessen erster Lehrling auf Michaelis 13 Geselle wird, sich mithin bei Annahme des zweiten Lehrlings bereits im letzten Lehrjahre befand. Sodann sind wir der Meinung, daß Fischer seine Lehrlinge eben so viel zur Musik gebraucht, als zum Leinenweben. Endlich, dies halten wir für die Hauptsache, verfertigt Fischer durchaus keine Arbeit für andere aus fremdem Garn. Derselbe ist vielmehr als Fabrikant anzusehen, derselbe kauft Garn und verkauft seine Leinwand. Nach unseren Privilegien kann ein Meister so viele Gesellen halten, als er will; Lehrburschen aber nur einen, damit er nicht andern Meistern die Arbeit nimmt; welche andere Leute den Leinewebern dadurch verschaffen, daß sie denselben ihr Garn zum Verweben bringen. Außer diesem einen Meister Fischer hält keiner in unserer Gilde mehr als einen Lehrling; unter 30 Meistern sind wohl nur zehn, welche einen Lehrling halten.

Wir würden auch dennoch uns nicht zum Einschreiben des zweiten Lehrlings für Fischer entschlossen haben, wenn nicht auch in Lüchow der Meister Lüders zwei Lehrburschen hätte.“

Diese Verteidigungsrede hat aber den Wustrower Gildemeistern nichts genützt. Auch der Gegenangriff auf den Lüchower Meister Lüders blieb wirkungslos. Das Eingeständnis, daß nur ein Lehrling gehalten werden darf, war entscheidend, und so entschied die Behörde, daß der Meister Fischer in Simander den zweiten Lehrling wieder abschaffen müßte. Für ein ähnliches Verfahren wurde der Wustrower Leinenweberinnung eine Strafe von fünf Reichstalern angedroht. Außerdem wurden ihr die Kosten dieser Klage auf gebürdet.

Freunde von einst waren im Laufe der Zeit zu erbitterten Gegnern geworden, die sich einander scharf beobachteten und eins auswischten, sobald sich dazu nur eine Gelegenheit bot.
Die ehemalige Legge zu Bergen an der Dumme.
Die Linnenleggen

In den Anfangszeiten des Handels mit Leinen ist es anscheinend zu sehr unliebsamen Begleiterscheinungen gekommen. Es mag in der Natur der Sache gelegen haben, daß der Leinenhandel allzu leicht zum Betrügen reizte, denn ein in beträchtlicher Länge hergestelltes Stück Tuch, das man zu Ballen zusammenlegte, ließ sich schwerlich in seiner Größe und in seiner Qualität abschätzen. Eine sehr naheliegende Folge war, daß der Verkäufer, mag er nun ein Handwerker oder ein Privatmann, der die Stoffe in Hausweberei hergestellt hatte, gewesen sein, den Käufer übers Ohr haute, indem er über Länge und Güte der Ware zu eigenen Gunsten falsche Angaben machte. Solche kleinen und großen Unehrlichkeiten haben dann sehr frühzeitig zu dauernden und durchaus berechtigten Klagen der Übervorteilten geführt und die staatliche Obrigkeit zu einem Eingreifen veranlaßt, um solche Ungerechtigkeiten, die dem Ansehen des Staates schadeten und den Ruf eines ehrbaren Kaufmannes in Mißkredit brachten, zu unterbinden.

Schon der Artikel 29 des Innungsbriefes von 1694 für die Lüchower Leinenwebergilde enthielt folgende Anordnung: „Auch sollen die Leinweber und Drellmacher gehalten seyn, das Linnen und Drell mit dem Kamm dem Eygenthümer ins Hauß zu bringen unndt in gegenwarth deßen solches abzuschneiden.“ Doch auch diese Bestimmung scheint nicht ausgereicht zu haben. Die Klagen verstimmten nicht, und immer neue Unstimmigkeiten brachten schließlich den Leinenhandel dermaßen in Verruf, daß sich der Staat zu drastischen Maßnahmen entschließen mußte, die diesen Handel völlig unter seine Kontrolle zwangen.

Diesem Zwecke dienten die Linnenleggen, die Anstalten des Staates waren. Nach Karl Hennings wurden die ersten Leggen des Landes Hannover im Jahre 1770 im Osnabrücker Lande, und zwar in Bramsche, Essen, Iburg und Melle, errichtet. Damit durfte kein Stück Leinen mehr in den Handel gebracht werden, das nicht zuvor einer dieser Linnenleggen zur Begutachtung vorgelegt worden war. In diesen Leggen waren vereidigte Beamte, ein Leggemeister und ein Leggediener, tätig, die das von Handwerkern und Hauswebereien vorgelegte Leinen maßen, nach seiner Güte einstuften und kennzeichneten. Länge der Ballen und Qualität der Ware wurden in roter Farbe auf jedem Stück vermerkt, das außerdem mit dem Hoheitszeichen, dem zum hannoverschen Wappen gehörigen Rosse, und mit dem Namen der Legge abgestempelt wurde. Erst dann wurde das Leinen für den Handel freigegeben.

Schon 1790 folgten den Leggen im Osnabrücker Lande als nächstälteste die im Altkreise Lüchow gleichzeitig errichteten, und zwar erhielten hier die drei Orte, in denen Leinenweber-Innungen bestanden, auch Leggen: Lüchow, Bergen a. d. Dumme und Wustrow. Erst viel später folgten weitere Leggen in Dannenberg (1833), Uelzen (1829) und Bevensen (1831) In der „Bekanntmachung die Errichtung einer Legge-Anstalt in dem Flecken Bevensen betreffend“ heißt es u. a.: „Jedoch darf Niemand in den genannten obrigkeitlichen Bezirken sein verfertigtes Linnen bei einer Strafe von Einem Thaler für jedes Stück innerhalb oder außerhalb des Landes verkaufen, ohne solches zuvor nach einer der beiden Leggen zu Bevensen oder Uelzen zum Messen und Zeichnen gebracht zu haben; so wie zugleich allen inländischen Kaufleuten und überhaupt einem Jeden bei Strafe von 1 Thlr. bei jedem Stück untersagt wird, von den Einwohnern der fraglichen Bezirke Linnen anzukaufen, welches nicht mit dem Leggezeichen von Uelzen oder Bevensen versehen ist. Die Obrigkeiten haben auf Beobachtung dieses Verbots zu achten, und soll in Contraventionsfällen die Hälfte der Strafgelder dem Denuncianten mit Verschweigung seines Namens zugebilligt, die andere Hälfte aber der Legge-Casse eingeliefert werden."

Durch dieses generelle Verbot des An- und Verkaufes von ungestempeltem Leinen wurden die Käufer wirkungsvoll vor jeder Übervorteilung geschützt. Außerdem bewirkte die Einrichtung der Leggen eine bedeutsame Steigerung der Qualität der Tuche. Die einzelnen Leggen führten genau Buch über die angelieferte Ware. Als 1855 die „Zeitung für das Wendland“ in Lüchow erschien, ging sie schon sehr bald dazu über, in ihrem Handelsteil auch regelmäßig die Lüchower Leggeberichte zu veröffentlichen. Im allgemeinen gab es in der Woche zwei Leggetage, an denen Ware zum amtlichen Vermessen angeliefert werden konnte.

Was an Leinen zur Legge kam, war auch für den Verkauf bestimmt, denn selbsthergestellte Leinen- und Drelltuche, die für Eigengebrauch angefertigt worden waren, unterlagen nicht der Leggeaufsicht.
Der Stempel der Legge zu Lüchow, mit dem jedes Stück amtlich gemessenen Leinens versehen werden mußte. Hinzu kam als zweites Kennzeichen der Stempel mit dem Hoheitszeichen.
Der Leggestempel mit dem hannoverschen Hoheitszeichen.

(Dieses ist die einzige Abbildung im ganzen Artikel, bei der wir nicht auf ein Original-Negativ zurückgreifen konnten, weshalb sie noch das Druckraster aufweist.)
Im Stadtarchiv Lüchow befindet sich ein Plan der Stadt Lüchow aus dem Jahr 1856. Auf diesem ist der Standort des Lüchower Legge-Lokals in der Burgstraße, zwischen Rathaus und Hotel Bauer, eingetragen.

(Diese Abbildung war nicht Bestandteil des Original-Artikels)
Der Leinenhandel

In den Leggen fanden sich daher auch regelmäßig die Käufer ein. Das waren vorwiegend die Leinenhändler, die sofort nach der Vermessung und Kennzeichnung der angelieferten Ware an Ort und Stelle ihren Bedarf deckten. Es waren alljährlich beträchtliche Mengen, die bei den drei Leggen des Altkreises Lüchow vermessen, gestempelt und zum größten Teile auch wohl gleich umgeschlagen wurden. Karl Hennings nennt in seiner Festschrift „Das hannoversche Wendland" (1862) die im Jahre 1861 in den drei Leggen abgefertigten Mengen:

Legge zu Lüchow:
421 965 Ellen flächsene Linnen von 24 bis 36 Gang.
138 580 Ellen flächsene Linnen über 36 Gang.
600 171 Ellen halbflächsene Linnen und Bleichtücher von 18 bis 21 Gang.
265 887 Ellen heedene Linnen von 8 bis 15 Gang.
Total: 1 426 603 Ellen zu einem Geldwerthe von 131017 Thlr. 11 Gr. 2 Pf.

Legge zu Wustrow:
190 707 Ellen flächsene Linnen von 24 bis 36 Gang.
72 961 Ellen flächsene Linnen über 36 Gang.
279 277 Ellen halbflächsene Linnen und Bleichtücher von 18 bis 21 Gang.
188 451 Ellen heedene Linnen von 8 bis 15 Gang.
Total: 731 396 Ellen im Werthe von 74 129 Thlr. 19 Gr. 5 Pf.

Legge zu Bergen:
12 762 Ellen flächsene Linnen von 24 bis 36 Gang.
255 543 Ellen flächsene Linnen über 36 Gang.
50 240 Ellen halbflächsene Linnen und Bleichtücher von 18 bis 21 Gang.
19 888 Ellen heedene Linnen von 8 bis 15 Gang.
Total: 338 433 Ellen im Werthe von 35 464 Thlr. 3 Pf.

Zu dieser Aufstellung gibt Hennings folgende aufschlußreiche Erläuterungen:„Zusammengezogen hat also das Wendland im Jahre 1861 an die Legge gebracht:
1 092 518 Ellen flächsene Linnen,
929 688 Ellen halbflächsene Linnen und Bleichtücher,
474 226 Ellen heedene Linnen.
Total: 2 496 432 Ellen zu einem Werthe von 240 611 Thlr. 1 Gr.
Ist die Legge in Bramsche im Osnabrück‘schen, welche 1 874 935 Ellen zu einem Werthe von 155 231 Thlr. 20 Gr. 2 Pf. über den Meßtisch gehen ließ, die erste im Range, so folgt nach dieser die Legge zu Lüchow.

Es erhellt aus den gegebenen Ziffern, daß zu Bergen mehr feine Linnen, mehr Linnen über 36 Gang an den Markt gebracht werden. Ein ähnliches Resultat liefert die Legge der Nachbarstadt Dannenberg. Dagegen treten mit halbflächsenen Linnen, mit Drellen und mit heedenen Linnen die Leggen zu Lüchow und Wustrow bedeutend in den Vordergrund.

Um den Fortschritt, den die heimische Linnenindustrie gemacht hat, und zugleich die günstige Konjunktur der letzten Jahre zu zeigen, führen wir an, daß auf der Legge zu Lüchow im Jahre 1831 nur 1 183 277 Ellen zu einem Werthe von 88 069 Thlr. 11 Gr. 10 Pf, gemessen wurden. Im Jahre 1857, welches Jahr nach Geldwerth den bisherigen höchsten Betrag vorführt, hatte die Legge zu Lüchow eine Frequenz von 1 806 679 Ellen im Werthe von 176 026 Thlr. 22 Gr. 3 Pf.

War der Werth der im Jahre 1861 im Wendlande zur Legge gebrachten Linnen nach unserer Aufstellung 240 611 Thlr. 1 Gr., so haben wir den Werth des selbst verbrauchten Produktes, das sogenannte Hauslinnen, welches nach Tracht und Lebensweise der Wenden ganz bedeutend ist, noch mit zu veranschlagen. Wir dürfen dies Quantum nach sorgfältig angestellten Untersuchungen reichlich auf ein Sechstel des zu Markt gebrachten Produktes veranschlagen, und demnach kommt auf das Wendland alljährlich ein Betrag der Linnenfabrikation von ca. 300 000 Thlr."

Auch Hennings bestätigt also, daß in Bergen an der Dumme hochwertiges Leinen in erster Linie hergestellt wurde, während Lüchow und Wustrow in der Hauptsache geringere Qualitäten in gröberer Verarbeitung anfertigten. Zur Blütezeit des Leinenhandels soll es in Bergen 24 Leinenhändler gegeben haben.

Das Absatzgebiet für wendländisches Leinen war die ganze Welt, vor allem England und Amerika, wohin es über Hamburg ausgeführt wurde.

Die drei Leggen befanden sich in Lüchow in den heutigen Räumen des Einwohnermeldeamtes des Rathauses, in Wustrow bei der Fa. Friedr. & E. Wentz und in Bergen an der Dumme in der Bahnhofstraße. Dieses Gebäude hatte ursprünglich nur einen großen Raum. In ihm war bis zum letzten Jahre die Schullehrküche untergebracht, dann wurde er zu einer Wohnung ausgebaut.

„Aus dem Amte Gartow kommen wenig Linnen an die Legge, wird dort einmal an und für sich weniger gewebt, so ist anderseits bei der Vorliebe für linnene Kleidung, die man der Holzarbeiten wegen hegt, in diesem Distrikte der eigne Verbrauch ein großer" schreibt Karl Hennings in seiner Festschrift „Das hannoversche Wendland" (1862). Im nordöstlichen Kreisteil wurde also in erster Linie für den Hausgebrauch gesponnen und gewebt. Es hat auch dort handwerkliche Leinenweberei gegeben, doch war die Zahl der Landmeister in und um Gartow immer nur gering.

Dennoch setzten gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch in Gartow Bestrebungen ein, die auf die Gründung einer Leinenweberinnung abzielten. Lehrer Haberland ist bei seinen historischen Forschungen im Staatsarchiv Hannover auch auf Akten gestoßen, aus denen hervorgeht, daß in den Jahren 1790 bis 1792 mit der Regierung über die Zulassung einer Leinenweberzunft in Gartow verhandelt worden ist. Am 18. Januar 1792 ist jedoch nach Haberlands Mitteilungen dieser Antrag endgültig abgelehnt worden. In dem Ablehnungsschreiben heißt es: „Die Leineweber-Profession gehört zu den völlig freien Gewerben, die jeder ungehindert treiben darf und wobei ein Gildezwang überall nicht statthaben soll."

Wer von den Leinenwebermeistern im Bezirk Gartow dennoch einer Innung beitreten wollte, dem bot sich dazu die Gelegenheit in Lüchow und Wustrow.
Zusammenbruch

Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts stand im Altkreise Lüchow das Leinenweberhandwerk in höchster Blüte, und die Leinenweberinnungen waren in den drei Orten, in denen sie bestanden, die weitaus stärksten Zünfte. Und doch war dieses Handwerk in den Tagen seiner höchsten Blüte schon vom Tode gezeichnet, denn am Ausgang des 18 Jahrhunderts hatte man in England den ersten mechanischen Webstuhl erfunden, der sehr bald einen unaufhaltsamen Siegeszug durch die Welt antrat. Im Wettstreit mit der maschinellen Herstellung mußte die handwerkliche Leinengewinnung unweigerlich auf der Strecke bleiben.

Der völlige Zusammenbruch des einst blühenden Leinenweberhandwerks trat dann auch am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Der Mensch konnte mit seinen Händen nicht so schnell und so billig spinnen und weben wie die Maschine. Von Angst und Sorgen um die nackte Existenz getrieben, haben sich die Leinenweber aufgebäumt gegen ein Schicksal, gegen das sie machtlos waren. Der Untergang des Jahrhunderte alten Leinenweberhandwerks um die Jahrhundertwende wurde zu einer der erschütterndsten Tragödien in der Geschichte des deutschen Handwerks. Kein Geringerer als Gerhart Hauptmann hat sie in seinem schlesischen Schauspiel „Die Weber" dramatisch gestaltet.

Das Ende der beruflichen Handweberei, der aussichtslose Kampf gegen die Technisierung eines handwerklichen Berufes löste auch im Altkreise Lüchow harte Spannungen aus, führte zu kleinen menschlichen Tragödien am Rande einer tiefgreifenden Umwälzung und sozialen Umschichtung. Der alte Kirchendiener Jacobs in Wustrow soll im Jahre 1895 in ohnmächtiger Auflehnung gegen eine Entwicklung, die niemand aufhalten konnte, seinen Handwebstuhl zerschlagen haben. Bis 1900 noch gab es in Wustrow eine Leinenweberinnung, deren Mitglieder auf einer besonderen Bahre von Trägern mit Zunftmänteln und Timpenmützen zu Grabe getragen wurden.

Wohl wird auch heute noch im Wendlande hier und da gesponnen und gewebt wie einst. Aber wo das geschieht, da gilt die Arbeit ausschließlich für den Hausgebrauch, vor allem in Kriegszeiten. Wohl gibt es auch bei uns wie etwa in Prießeck kleine Webereien zur Herstellung kunstgewerblicher Decken und Kleidungsstücke. Wohl lehren unsere Landwirtschaftsschulen ihre Schülerinnen von den heimischen Bauernhöfen noch das Spinnen und Weben an Bandwebstühlen, doch die handwerkliche Leinenweberei ist tot. Und mit ihr ist auf unseren Feldern verschwunden die blaue Blume der Romantik, der Flachs, der diesem versunkenen Handwerk den Rohstoff lieferte für seine Erzeugnisse.

Vom Handwerk zur Industrie

Nur in einem Orte des hannoverschen Wendlandes hatte man die Bedeutung des heraufziehenden technischen Zeitalters für die Leinenherstellung frühzeitig erkannt und sich beizeiten vom Handwebstuhl auf den mechanischen Webstuhl umgestellt. In Wustrow richteten die Gebrüder Friedrich und Ernst Wentz, die einen gutgehenden Leinengroßhandel betrieben, in deren Hause sich auch die Legge befand, bald nach der Gründung des Deutschen Reiches eine mechanische Weberei ein, in der im Februar 1874 der erste mechanische Webstuhl in Betrieb genommen wurde. In dieser Fabrik fanden erfahrene Wustrower Leinenwebermeister eine neue Beschäftigung. Durch die Umstellung von der handwerklichen auf maschinelle Arbeit mußten sie zwar umlernen, aber sie wurden die Träger einer traditionellen Fortführung eines uralten Gewerbes der Heimat auf völlig neuer Grundlage. Sie sorgten dafür, daß auch weiterhin große Mengen bester Leinwand aus dem Wendlande nicht nur an deutsche Verbraucher, sondern auch ins Ausland gingen. Im Geiste der Gründer führte später Heinrich Lühring diese mechanische Weberei weiter und rettete sie auch über die schweren Jahre der Inflation hinweg. 1928 erwarben die Gebrüder Otto, Wilhelm und Heinrich Krome die Fabrik, die heute im 82. Jahre ihres Bestehens mit Umsicht vom letzten lebenden Bruder Heinrich Krome geleitet wird.
70 bis 80 Webstühle surren Tag für Tag in der Weberei Wentz in Wustrow. In langen Reihen stehen sie zu beiden Seiten des riesigen Arbeitssaales. Zu ihnen gesellen sich zahlreiche vielseitige Vorbereitungsmaschinen. Unter den Webstühlen sind die Jaquardstühle, von denen wir hier einen im Bilde zeigen, die interessantesten, auf denen Gebildgewebe, oft auch mit Wappen und Inschriften versehen, hergestellt werden.
Es entstanden bei dem Fototermin im Jahr 1955 drei weitere Aufnahmen in der Weberei.
Eine Publikation des Museumverein Wustrow e.V. liefert umfangreiche, weiterführende Informationen zum Thema:

Kali und Leinen - Industrialisierungsansätze im Raum Wustrow 1874-1928

Im Jahr 2005 herausgegeben von Dr. Ulrich Brohm und Elke Meyer-Hoos, 304 Seiten
ISBN 3-935971-20-6
Archiv-ID: 5246460
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