Rote Segel auf der Jeetzel
Als noch die Jeetzel-Schifffahrt blühte - Im Kampf mit den Sandbänken
"Das waren noch Zeiten," sagte Vater Diedering, einer der letzten noch lebenden Jeetzel-Schiffer, als er von der einst so stolzen Jeetzel-Flotte erzählte. "Wenn wir von Salzwedel zurückkamen, konnten wir fast den ganzen Tisch voll Goldstücke zählen.
"Ja, das war noch ein Leben, als die Segelschiffer Bading, Martens, Behlendorff und wie sonst die alten Jeetzelfahrer aus Hitzacker hießen, die Zeit noch nach Tagen anstatt nach Stunden und Minuten maßen. Wenn es auch ein harter Beruf war, so herrschte doch Wohlstand unter den zahlreichen Schifferfamilien. Mit den Zollbeamten, den Schauerleuten und den "Baggerern", die ständig jeetzelauf und -ab fuhren und mit ihren Handgeräten den Sand aus der Fahrrinne schöpften, waren es über 200 Familien, die durch die Schifffahrt ihr Auskommen fanden. Aber ganz Hitzacker, das um die Jahrhundertwende (1900) etwa 1000 Einwohner zählte, lebte zu einem Teil davon, denn die Stadt an der Jeetzelmündung war ein bedeutender Umschlagplatz für Heringe, Petroleum, Reis und Dachziegel aus Hamburg, sowie Kohle aus Böhmen.
Das heute noch als "Zollhaus" bekannte Gebäude am Kranplatz, das im Jahre 1609 erbaut wurde, beherbergte früher ein Hauptzollamt mit einer Zollabfertigungsstelle für die Jeetzelschiffe. Am Vorhof, dem heutigen Kranplatz, befand sich ein starkes Bollwerk aus Eichenpfählen, an dem die Kähne anlegen konnten. Hier stand auch der aus Eichenfachwerk errichtete Kran, der die zollpflichtigen Waren aus den Schiffen hob. Hüpeden und Knigge waren angesehene Zöllnerfamilien, deren Nachkommen noch heute in der kleinen Beamtenstadt am Elbufer ansässig sind. Ein Zollkreuzer diente als Wachschiff, und sein Steuermann, der "Wachtschiffer-Schulz", war von Hitzacker bis Salzwedel als Original bekannt, auch dann noch, als seine altersschwachen Hände längst nicht mehr das Ruder führten.
Schwerbeladen ließen sich die Kähne von Hamburg durch Schleppdampfer elbaufwärts nach Hitzacker ziehen. Hier wurden die roten, braunen oder weißen Segel gesetzt, und die Jeetzel-Flotte, meist etwa 15 Schiffe, von denen jedes 50 bis 75 Tonnen trug, ging gemeinsam auf Fahrt hinauf nach Dannenberg mit Kohle für die großen Brennereien, nach Lüchow mit französischem Wein für Bartels Hotel (? - Ein Hotel Bartels gab es in Lüchow nicht. Anm. T. Schoepe), und nach Salzwedel mit Waren für die Kaufhäuser Gerlach und Kleinloff. War der Wind günstig, konnte man in acht bis zehn Stunden in Lüchow sein. Aber nicht immer ging die Fahrt ohne Zwischenfälle ab. Kam eine Flaute, griff die dreiköpfige Schiffsbesatzung zu den Stangen und stakte sich mühsam flussaufwärts. Wie schwierig die Schifffahrt auf der kurvenreichen, damals sieben bis 20 m breiten Jeetzel war, beweist die Tatsache, dass die Schiffer eine besondere Prüfung für die Fahrt auf der Jeetzel ablegen mußten, bevor sie in die Segelflotte aufgenommen wurden. Nicht selten kam es vor, dass ein Kahn sich auf einer der heimtückischen Sandbänke festfuhr. "Alle Mann" schallte es dann von Schiff zu Schiff, und die Männer stiegen ins Wasser, um den gestrandeten Kahn mit vereinten Kräften wieder flott zu machen. Und weiter ging die Fahrt der stolzen Flottille. mit wehenden Wimpeln und Flaggen an den bis 100 Fuss hohen Masten.
Auf der Rückfahrt wurde in Salzwedel Korn und Eisen geladen. Aus dem Wendland gingen Kartoffeln, Weizen, Hopfen und ballenweise Leinen talwärts. Und von Dannenberg aus wurden Rüstern- und Eschenbohlen, sowie Holz für die Schiffsblock-Drechsler verladen. Handel und Wandel blühten. Und wenn auch die Schiffer manche klingende Münze auf der Theke bei Fröhlings-Marie in Lüchow springen ließen, so brachten sie dennoch genug mit nach Hause, um mit ihren Familien durch den Winter zu kommen, wenn die Schifffahrt still lag.
Mit dem Fortschritt der Technik und dem Bau der Eisenbahnlinien im Kreis Dannenberg kam die Jeetzel-Schifffahrt mehr und mehr zum Erliegen. Die Regulierung der Jeetzel, die mit dem Einbau von Schleusen und der Begradigung und Verengung des Flusslaufes verbunden war, gab ihr den Todesstoß. Das war um das Jahr 1905. Danach gab es nur noch wenige, die den Mut aufbrachten, mit Motorbooten weiterzufahren. Unter ihnen war auch Vater Diedering, der die Jeetzel als Letzter im Jahr 1931 bis nach Lüchow befuhr.
"An den Wehren blieben wir oft mit unseren Kähnen hängen," erzählt der weißhaarige Schiffer, "denn wir fuhren mit einem Tiefgang von 60 Zentimetern, und das Wasser war oft sehr flach. Als dann noch Brücken gebaut wurden, war es noch schwieriger. Wenn wir durchfahren wollten, musste die Brücke bei Seerau und die Knickbrücke in Dannenberg zum Teil abgerissen und nachher wieder aufgebaut werden." Wegen der Durchfahrt an der Seerauer Brücke führte Vater Diedering einen Prozess gegen den Staat und - verlor ihn. Im Jahr 1941 machte der damalige Bürgermeister von Dannenberg noch einen Versuch, einen Motorbootverkehr zwischen Hitzacker und Dannenberg einzurichten, um den Fremdenverkehr zu fördern. Aber der Plan scheiterte an dem geringen Wasserstand während der Sommermonate.
Der Schiffsverkehr ist zu Ende. Die Romantik der Jeetzel-Flotte lebt nur noch in der Erinnerung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass auf den heute noch gültigen Wasserstraßen-Karten die Jeetzel als schiffbarer Fluss erster Ordnung eingetragen ist. (RZ)
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Der obige Bericht wurde in etwas modifizierter Form am 6. Januar 1968 in der EJZ zum 75-jährigen Jubiläum des Schiffervereins Hitzacker veröffentlicht.