Kremlin - Kindheit als evakuierter Hamburger Junge
Erich Neumann, Hamburg. Geb. 1938.
Erich Neumann hat seine unveröffentlichte Autobiografie dem Wendland-Archiv übergeben. Wir veröffentlichen hier den kleineren Teil über seine Zeit in Kremlin, wo er als Kind von 1943 bis 1949 lebte. Er gehörte zu den aus Hamburg schon vor dem „Feuersturm“ evakuierten Familien.
Vor seiner Geburt wohnten seine Eltern mit drei Kindern in Hamburg-Barmbek in der ruhigen, kleinen Straße Rosamstwiete 6, in einer Dreizimmer.
1938 zogen sie in eine vier Zimmerwohnung in Grögersweg 4, auch in Hamburg-Barmbek.
Dieses Haus wurde später von Brandbomben getroffen und brannte völlig aus.
Erich Neumann:
"An einem Tag im Juni 1943 wurden wir aufgefordert, uns zur nahe liegenden Straße Rübenkamp zu begeben. Dort standen viele Lastwagen bereit, auf die wir aufsteigen mussten, um aus Hamburg, mit unbekanntem Ziel, evakuiert zu werden. Lilo, meine Mutter, im achten Monat schwanger, mit kleinem Gepäck und ich, stiegen mit vielen anderen Hamburgern auf einen Lastwagen, um aus Hamburg abzufahren. Unser Wohnblock war zu dem Zeitpunkt noch nicht von einer Bombe getroffen. Mein Vater war damals schon Soldat. Die Geschwister Ruth und Fred befanden sich in der Kinderlandverschickung in Ungarn bzw. in Böhmen und Mähren."
Der Rundling Kremlin um 1995
Die Mutter wird mit den zwei Kindern auf dem großen Hof von Heinrich Schultze in Kremlin aufgenommen.
Erich Neumann:
"Das Dorf Kremlin bestand aus zehn Bauernhöfen und einem hohen Transformatorhaus. Das Dorf hatte die Form eines Hufeisens und bildete für die Straße eine Sackgasse.
Oktober 1943 bis Juli 1949
Es gab keine Schule, keine Kirche, keinen Krämer und auch keinen Gasthof. Aber dafür sehr viel Platz zum Spielen. Wie sich später herausstellte, war es auch ein sicherer Platz vor den Kriegsgeschehnissen! Ich glaube in dem Dorf habe ich trotz aller Entbehrungen, die schönste Zeit meiner Kindheit verbracht.
Kremlin liegt in der Nähe von Gorleben, im Kreis Lüchow-Dannenberg, in Niedersachsen. Dort lebte die Schwester, der Pflegemutter meines Vaters auf einem großen Bauernhof, der ihrem Mann, dem Bauern Heinrich Schultze, gehörte.
In dem großen Bauernhaus bekamen wir einundeinhalb Zimmer mit Ofenheizung zugewiesen. Die Zimmer lagen zur ruhigen Dorfstraße, aber auch zum Norden, was die Räume, auch im Sommer, sehr kalt machte. Die Zimmerwände waren mit Lehm verputzt und tapeziert. Ich erinnere, dass ich, wenn ich im Bett lag, mit den Fingern kleine Löcher in die Lehmwände gekratzt habe. In den beiden Zimmern gab es keinen Wasseranschluss. Das Wasser holten wir aus der Schweineküche, oder aus dem Kuhstall. Wir wuschen uns aus einer Schüssel mit meistens kaltem Wasser.
Kochen konnte meine Mutter in der so genannten Schweineküche, sie lag zwischen dem Schweinestall und der guten Küche, die dem Wohnteil des Bauernhauses zugeordnet war. In der Schweineküche lagerten die Kartoffeln für die Schweine. Dort stand auch der große Druckkessel, in dem die Kartoffeln für die Schweine gekocht wurden.
Für uns gab es da einen Kohleherd und ein Spülbecken mit einer großen schrägen Ablauffläche, damals noch aus Holz, zum Abtropfen des nassen Geschirrs. Um in diese Küche zu gelangen, mussten wir immer über einen Flur und durch die große, modernere Küche der Bäuerin gehen.
In der Mitte der Schweineküche stand ein großer gemauerter Backofen. In diesem Ofen hat der Altbauer alle zwei Wochen die Brote für seine Familie und die Mägde und Knechte auf dem Bauernhof gebacken. Dazu wurde in der Backröhre des Ofens, mit Holz ein Feuer entfacht, bis ein Thermometer die richtige Temperatur anzeigte. Wenn diese erreicht war, wurde die Glut aus dem Ofen geholt und als erstes wurden dann Butterkuchen und Weißbrot in den Backofen eingeschoben. Wenn diese gebacken waren, wurden die dunklen Sauerteig-Brote, mit der längeren Backzeit gesondert in den Ofen geschoben.
Der Bauer Heinrich Schultze hatte den größten Hof im Dorf. Das betraf die Ackerfläche, sowie seine Hofgebäude. Zur Bewirtschaftung der Äcker besaß der Bauer vier Arbeitspferde und zwei Reitpferde. Auf den Pferden habe ich niemals jemanden reiten gesehen. Vielleicht hatte der Bauer dafür keine Zeit? Auch 15 bis 20 Kühe, ebenso viele Schweine, Enten, Gänse und Hühner und auch Hunde und Katzen gehörten zu dem Hof. Der Jungbauer, auch mit Namen Heinrich, war damals Soldat, seine Frau hieß Gretel. Ein Verwandter mit Namen Heinrich Langschulz lebte auch auf den Hof. Wir Kinder nannten ihn Krückstock Onkel Heinrich. Er war sicher schon im Rentenalter und ging immer an einem Stock.
Es gab eine Alt-Magd Anna und einen Alt-Knecht Anton, die aber beide keine leitende Funktion hatten. Außerdem gab es noch einen Kriegsgefangenen aus Frankreich und eine Frau aus Russland, auf dem Hof. Die Kriegsgefangenen konnten sich, wie die deutschen Arbeitskräfte, frei auf dem Hof bewegen. Der Franzose hielt sich sogar ein paar Kaninchen. Ich habe mich oft mit den Gefangenen unterhalten, denn sie waren nett und Sprachen ganz gut deutsch. Einmal hatte ich mit einer langen Stange, ein Schwalbennest in der Scheune zerstört, worauf die junge Russin mich heftig ausgeschimpft hat.
Schon bald nach uns, wurden noch zwei weitere Flüchtlingsfamilien auch jeweils ohne Mann, beim Bauer Schultze einquartiert. Mit den beiden Familien mussten wir uns die Schweineküche teilen. Ich erinnere aber nicht, dass es dabei ernste Schwierigkeiten gab. Die drei Familien haben den Bauern sicher auch belastet. Für Flüchtlinge und die Mägde und Knechte gab es nur ein einziges Plumpsklo, das nur über den Hof zu erreichen war. Es gab aber keinerlei Engpässe bei der Klo-Benutzung. Im Sommer blieb man nur sehr kurz auf dem Klo, weil die Luft zum Schneiden war. Außerdem nisteten da einige Wespen, unterhalb der Sitzfläche. Manchmal konnte ich eine Wespe mit dem Klodeckel erschlagen. Im Winter war dieses Klo natürlich sehr kalt, zumal die Tür praktischerweise sehr viel Luft und ein herzförmiges Loch hatte. Das kleine Geschäft konnten die männlichen Bewohner natürlich an vielen Plätzen auf dem großen Hof, verrichten. Die Familie des Bauern hatte in seinem Wohnbereich eine eigene Toilette, die ich aber nie gesehen hatte.
Auf dem großen Flur zwischen unseren Zimmern und der Küche des Bauern stand, in einem großen Blumentopf, eine Stechpalme. Manchmal habe ich des kurzen Weges wegen, in den Blumentopf gepinkelt. Wenn der Knecht Anton nicht in seinem angrenzenden Kuhstall war, dann konnte ich auch dort pinkeln. Für die Nacht hatten wir einen offenen Eimer in einer Zimmerecke stehen, den wir als Nachttopf nutzten.
Die Schulzeit in Meuchefitz
Im Jahre 1944 wurde ich mit einer Schiefertafel, Schwamm, Putztuch und Griffel in die Volksschule Meuchefitz eingeschult. Schwamm und Putztuch waren mit einem Band an meiner Tafel befestigt und hingen aus dem Ränzel heraus. Der Ränzel war eine Schultasche. Das Material dieser Schultasche, mit Schultergurt, bestand aus einem Material, das aus Papierfäden gewebt war. Daher war besondere Vorsicht bei Regen geboten. Ob ich auch eine Schultüte bekam weiß ich nicht mehr.
Der Weg zur Schule war knapp drei Kilometer lang. Er führte aus dem Dorf hinaus, auf eine mit Apfelbäumen bestandene Straße, bis zur sogenannten Sandkuhle. Die Sandkuhle war eine ehemalige Entnahmestelle für Sand und Kies, und hatte schon einen kräftigen Baumbestand. Die Sandkuhle bot uns Kindern immer wieder eine Abwechslung auf dem Schulweg. Da konnten wir auf Bäume klettern, uns verstecken, oder in dem kleinen Teich die Frösche beobachten und mit ihrem Froschlaich spielen. Wir ließen den Laich durch unsere Finger gleiten.
Auch während unserer Freizeit spielten wir immer mal in der Sandkuhle. Jeder hatte seinen eigenen Baum. Wir bauten Höhlen und spielten Verstecken. Einmal fanden wir in dem Teich drei Holzfässer. Ganz stolz fischten wir sie heraus und rollten sie in Richtung Dorf. Da kam zufällig der Bauer, dem sie gehörten, mit einem Pferdefuhrwerk vorbei und begann zu schimpfen. Er knallte vom Wagen herab mit der Peitsche und ließ uns die Fässer wieder in den Teich rollen. Die Fässer sollten in dem Teich nämlich aufquellen und dicht werden.
Hinter der Sandkuhle führte der Weg weiter auf einem unbefestigten Feldweg, bis wir in die Nähe von Meuchefitz, wo wiederum Apfelbäume an der Straße standen. In Meuchefitz führte der Weg um den Friedhof und die Kirche herum und dann waren wir an der Schule. Ich ging den langen Schulweg meistens mit noch anderen Kindern aus dem Dorf Kremlin gemeinsam. Im Sommer, zur Reifezeit der Äpfel, warfen wir mit Steinen in die Apfelbäume, um die Äpfel von den Bäumen zu bekommen.
Die Schule in Meuchefitz hatte nur einen Klassenraum, in dem die Klassen Eins bis Acht gleichzeitig unterrichtet wurden. Die Erstklässler saßen ganz vorne und hinten saß die Klasse Acht. Die Jungen saßen auf der einen und die Mädchen auf der anderen Seite des Klassenraums. Der Klassenraum war mit langen Schulbankpulten ausgestattet. Einen Teil der Pultplatten ließ sich hochklappen, damit die Schüler zwischen Tisch und Bank aneinander vorbeigehen konnten. Wer nicht aufpasste, der konnte sich an dieser Klappe, wenn sie heruntergeklappt wurde, kräftig die Finger klemmen.
Bei meiner Einschulung hieß der Lehrer Herr Brand. Er war der alt gediente Dorfschullehrer. Der Lehrer war, aus seiner Sicht, sehr praktisch veranlagt. Wenn er am Morgen in die Klasse kam, dann zeigte er auf die Schüler der achten Klasse und sagte beispielsweise: „Karl: Garten umgraben, Otto: Holz hacken, Wilhelm: Nüsse pflücken. „Edeltraud: Bei meiner Frau in der Küche helfen und Helga: Im Garten Unkraut jäten.“ Die Kinder der Bauern empfanden das als normal und erledigten die Arbeiten ohne zu murren. Das Wissen des Lehrers schien sich in engen Grenzen zu bewegen, denn ein Oberschüler, der nur vorübergehend bei uns unterrichtet wurde, berichtigte den Lehrer im Deutschunterricht gelegentlich.
Obwohl ich damals noch kein Diktat schreiben musste, erinnere ich mich noch an den Anfangssatz dieses immer wiederkehrenden Diktat-Textes: Eine Schnecke die am Bahndamm wohnte, ärgerte sich immer über den herannahenden Zug. „Dich werde ich umwerfen“, sagte sie und kroch an der Schiene nach oben… … Zeugnisse soll es angeblich nur alle vier Jahre geben haben. Und von den Kindern der Bauern, sollen die Schulnoten mit Speck und Wurst für den Lehrer, geschönt worden sein.
Der Gipfel war, dass der Lehrer die Mädchen während des Unterrichts regelmäßig und demonstrativ, unsittlich berührte. Er fasste den Mädchen, vermutlich erste Klasse, unter den Rock oder entblößte ihre Pobacken, wobei er sie der Klasse zeigte. Wie die Schulklasse darauf reagierte weiß ich nicht mehr. Für die Flüchtlingskinder und deren Eltern war das Verhalten des Lehrers natürlich nicht tragbar und der Lehrer wurde, als ich in der zweiten Klasse war, abgesetzt. Er durfte aber weiterhin in dem Schulgebäude wohnen.
Der neue Lehrer hieß Herr Preuß. Er hatte uns Kinder sehr gut im Griff. Im Unterricht wurden immer mehrere Klassen zusammengefasst, während die übrigen Kinder mit Schreib- oder Rechenaufgaben beschäftigt wurden. Trotzdem habe ich oftmals gelauscht, wenn die oberen Klassen unterrichtet wurden. Ich weiß noch, dass Herr Preuß den oberen Klassen im Erdkundeunterricht vom Yellowstone-Park, im Herzen der USA, erzählte. Ich empfand das Thema hochinteressant. Noch heute schwärme ich von diesem Park, obwohl ich ihn nie betreten habe und ihn auch nicht mehr besuchen werde.
Die Anzahl der Schüler in der Dorfschule wuchs, durch die vielen Flüchtlingskinder deutlich an. In der Spitze saßen bis zu 123 Kinder in einem Klassenraum. Wir saßen Schulter an Schulter, mit sechs bis acht Kindern auf den Bänken nebeneinander. Das Abgucken war da natürlich sehr leicht.
Der neue Lehrer Herr Preuß, verstand es den Unterricht interessant zu gestalten: Unser Klassenraum wurde mit einem großen Ofen beheizt. Der Ofen mit seinem Feuer und wir Schüler mit der Atmung, verbrauchten ständig den Sauerstoff im Klassenraum. Das machte der Lehrer den oberen Klassen klar und er errechnete mit den Schülern gemeinsam, wie oft der Klassenraum belüftet werden müsste. Solche praktischen Aufgaben erhöhten den Lernspaß natürlich beträchtlich. Dieses Praxisnahe Lernen habe ich später oft vermisst. Aber oft gab es natürlich auch den schulischen Alltag, in Meuchefitz.
Wir Schulkinder gingen auch gemeinsam zum Kräutersammeln, die dann getrocknet und abgeliefert wurden. Einmal hatte ich einen Eimer voll mit Blättern gesammelt. Dann wurde ich krank und konnte die Blätter nicht abliefern. Als ich dann nach der Genesung, die Blätter abliefern wollte, da waren sie völlig matschig. Ich hatte geglaubt ein Eimer wäre der richtige Aufbewahrungsbehälter. Ein luftiger Korb wäre das mindeste gewesen um die Blätter trocknen zu lassen und aufzubewahren.
An wen wir die Kräuter ablieferten, das weiß ich nicht mehr. Als Sammelkräuter kamen Schafgabe- und Taubnesselblüten, Huflattich-, Birkenblätter und andere Kräuter der Natur in Frage. Das Kräutersammeln diente dazu, den allgemeinen Mangel an Grundstoffen, nach dem Krieg abzubauen.
Mit allen Schülern gingen wir im Sommer auf die Felder um Kartoffelkäfer zu sammeln. Dabei wurde jede Pflanze genau untersucht und jedes Kind wollte am Ende natürlich die meisten Käfer gesammelt haben. Der Kartoffelkäfer war unser erklärter Feind, denn wir wussten, er mindert unsere Kartoffelernte.
Der neue Lehrer hatte aber auch eine nicht pädagogische Eigenschaft. Er zog Schwester Lilo wegen ihrer schlechten Augen vor der gesamten Klasse auf, wenn sie wegen ihrer schwachen Augen, die Schrift auf der Wandtafel nicht lesen konnte. Lilo litt auch als Erwachsene Frau noch darunter, dass sie eine Brille tragen muss und nimmt diese beim Fotografiertwerden gern ab, was ihren Gesichtsausdruck leider nicht hübscher macht.
Die Prügelstrafe galt damals noch als probates Mittel zur Erziehung. Der Lehrer benutzte dazu eine Haselnussrute. Damit schlug er meistens auf den Rücken der Schüler, während sie noch in der Bankreihe saßen. Bei besonders schweren Vergehen mussten die Schüler sich nach vorne begeben und vorbeugen, damit der Hintern versohlt werden konnte.
An Sportmöglichkeiten gab es damals nur den 100 m Lauf, Weitsprung und Schlagball-Weitwurf. Mit dem Laufen und Springen lag ich im guten Mittelfeld. Den Schlagball warf ich nur dreißig Meter weit, das war sehr schwach und hat sich nie deutlich verbessert. In der Schule spielten wir gern Völkerball. Dabei war ich auch gut. Oftmals fing ich die harten Bälle der größeren Schüler auf, die mich natürlich gern abwerfen wollten.
Erich Neumann, 1947, 9 Jahre alt, im kalten Winter.
Als in meinem zweiten Schuljahr die Weihnachtszeit nahte, durften wir während der Unterrichtszeit Weihnachtsgeschenke basteln. Dabei handelte es sich überwiegend um Arbeiten mit Holz. Davon gab es genügend, nur war es überwiegend noch im Rohzustand. Es mangelte am Werkzeug und an den Kleinigkeiten wie Schrauben, Nägeln, Farbe, Leim usw. Mein wichtigstes Werkzeug war ein kräftiges Brotmesser, es war von den Mitschülern sehr begehrt und ich musste es mehrfach verteidigen. Ein Renner unter den Werkarbeiten war die Lokomotive, sie wurde fast in Serie gebaut und immer weiterentwickelt. Das Basteln fand in unserem Klassenraum, auf den soliden Schulbänken statt.
Einen Höhepunkt in der Weihnachtszeit bildete das christliche Krippenspiel, also die Geburt Jesus im Schafstall, bei den Hirten. Ich war in der zweiten Klasse und bis dahin unbeteiligt. Der Lehrer sprach davon, dass in den nächsten Tagen die Rollen für das Krippenspiel verteilt werden sollten. Es gab also irgendetwas, das wir bekommen sollten. Ich war ganz aufgeregt. Wer bekommt was für eine Rolle und was bekomme ich?
Dann sollten am nächsten Tag die Rollen verteilt werden. In mir gab es nur noch die Rolle, die Rolle, die Rolle. Am nächsten Tag in der Klasse hörte ich, dass einige Mitschüler schon ihre Rolle bekommen hatten und ganz glücklich damit waren. Manche hatten ihre Rolle sogar schon getauscht. Nur ich hatte noch keine Rolle gesehen oder gar bekommen. Rolle, Rolle, Rolle! ging es mir durch den Kopf. Irgendwann ist mir dann ein Licht aufgegangen, mir wurde klar, dass die Rolle nichts Materielles darstellte.
Das war für mich eine große Enttäuschung! Ich bekam auch keine spielerische Rolle, was aber nicht schlimm war. Mir war ganz egal gewesen was ich als Rolle bekommen würde, wenn ich nur etwas bekam. Sollte ich es nicht selbst gebrauchen können, dann hätte ich wenigstens etwas zum Tauschen gehabt.
Das Krippenspiel wurde am Heiligen Abend in der Kirche von Meuchefitz, vor der Gemeinde aufgeführt. Natürlich durften auch alle übrigen Schulkinder zusehen.
Da auch für die Landbevölkerung die Ernährung nur unzureichend war, gab es die Schulspeisung. Die Lebensmittel kamen teilweise als Spende aus Amerika und wurden von den Eltern der Schüler, im Schulgebäude gekocht. Leider war auch das Essgeschirr nicht in ausreichender Menge vorhanden und so kam es immer wieder vor, dass ein Essgeschirr von Mitschülern gestohlen wurde. Wenn der „Dieb“ es mit nach Hause nahm, dann war es für immer verschwunden. Das Essgeschirr bestand meistens aus einem emaillierten ein Litertopf mit Henkel.
In den Jahren nach dem Krieg gab es von Allem nichts, es herrschte ein totaler Mangel an Lebensmitteln und jeglichem Material. Auch Schreibpapier war nicht zu bekommen. In einem Schrank vom Bauer Schultze fanden wir Kinder große alte Journalbücher. Aus denen rissen wir uns alle leeren und auch die wenig beschriebenen Seiten heraus, um darauf unsere Schularbeiten zu schreiben. Sogar auf den Innenseiten von Briefumschlägen schrieben wir unsere Schularbeiten nieder. Auch der elektrische Strom war rationiert und bei Dunkelheit mussten wir beim Licht einer Petroleumlampe oder einer Kerze sitzen und auch unsere Schularbeiten machen.
Ab der vierten Klasse bot der Lehrer auch einen Englischunterricht an. Dass ich dabei nicht mitmachte hatte mehrere Gründe: meine Deutschkenntnisse waren nicht gut, die englische Sprache erschien mir nicht wichtig, der Unterricht sollte fünf Deutsche Reichsmark im Monat kosten und meine Mutter hatte sich auch nicht darum gekümmert. Später fehlten mir die Grundkenntnisse der englischen Sprache und waren mit ein Grund dafür, dass ich nicht in eine weiterführende Klasse kam.
Auch damals war das Schönste an der Schule schon die Ferien. Aber da gab es noch eine Angstpartie vorweg. Wir Schüler kamen aus verschiedenen Dörfern in die Schule. Aus dem Nachbardorf Köhlen kamen die Brüder Horn, auch Flüchtlingskinder. Sie gehörten zu der Klasse sieben und acht. Diese Brüder hatten immer einen Spaß daran, nach dem letzten Schultag einige Kinder, aus einem anderen Dorf zu verprügeln. Das geschah angeblich, weil die Brüder Horn sich während der vergangenen Schulzeit über diese Kinder geärgert hatten. Dieser Prügelei wollten wir natürlich entgehen.
Manchmal gingen wir auf einem anderen, als dem üblichen Weg nach Hause, um den Horn-Brüdern auszuweichen. Die Horns wollten uns natürlich vor den Ferien verprügeln, damit der Lehrer nach den Ferien davon hoffentlich nichts mehr wissen wollte. Einmal hatten wir uns am Ferienbeginn, mit Stöcken bewaffnet, und es kam dann zu keiner Prügelei.
Im Jahre 1948 bekam die Schule zusätzlich eine Lehrerin und einen zweiten Klassenraum. Ab dem Zeitraum konnte in zwei Klassen und in zwei Schichten unterrichtet werden.
Das Bauernhaus: SCHULTZE, in Kremlin 1998
Vom Kriegsgeschehen wurden wir in Kremlin weitgehend verschont. Im Dorf schlugen einmal zwei Granaten ein, die glücklicherweise nur leichten Schaden an einem Stallgebäude anrichteten und zwei Pferde töteten. Daraufhin wurde außerhalb des Dorfes ein leichter Feldbunker gebaut. Für den Bunker wurde ein tiefer, breiter Graben ausgehoben, der mit Balken und Erde abgedeckt wurde. Der Bunker wurde aber nur wenige Mal benötigt. Zu der Zeit muss es auch gewesen sein, dass wir Angst vor den Russen bekamen, denn die Front rückte vom Osten immer näher und sie blieb nur wenige Kilometer von unserem Dorf stehen.
Zur Vorbereitung einer Flucht vor den Russen, wurden aus alten Mehlsäcken Rucksäcke genäht. Unsere gerettete Nähmaschine tat dabei gute Dienste.
Mir waren die Gefahr und die Grausamkeit der Russen damals glücklicherweise nicht bewusst gewesen! Dazu muss ich immer wieder sagen: "Es gibt keinen sauberen oder fairen Krieg! Und die Russen haben die Grausamkeiten zum Teil auch deshalb begangen, weil wir Deutschen in Russland schon vorher gemordet und gebrandschatzt hatten!"
Nur einmal erschienen amerikanische Soldaten mit Jeeps und 2 Panzern, für einige Tage in unserem Dorf. Dabei fiel aber kein Schuss, auch hatten wir die Weiße Fahne vorher gehisst. Von den Amerikanern wurde jedoch vorsichtshalber die einzige Telefonleitung des Dorfes durchgeschnitten. Das Telefon befand sich beim Bauern Schultze im Flur an der Wand, Schultze war ja der Bürgermeister des Dorfes. Die amerikanischen Soldaten waren als human bekannt. Oberflächlich durchsuchten sie aber trotzdem die Häuser. Bei uns im Zimmer hing direkt an der Tür unser Fotoapparat, den wir gerettet hatten. Als die Soldaten ihn sahen, nahmen sie ihn sogleich an sich. Die deutschen Fotoapparate waren damals Spitzenklasse in der Welt und deshalb sehr beliebt. Ob das Mitnehmen des Fotoapparates ein dienstlicher Auftrag oder ein privates Interesse war weiß ich nicht. Wir hätten den Fotoapparat vorher leicht verstecken können, aber daran hatte niemand gedacht.
Bei der Ankunft der Soldaten rangen wir Jungen miteinander im Gras, um den Amis zu imponieren. Es sprang für uns aber nichts dabei heraus. Wir hatten auf Schokolade oder Kaugummi gehofft. Die Panzer der Amerikaner blieben nur wenige Tage im Dorf. Ich behielt diese Kolosse lange Zeit als viel größer in meiner Erinnerung, als sie tatsächlich gewesen waren.
Die Zeit der Entbehrungen begann erst richtig nach dem Kriegsende im Mai 1945. Wir Kinder haben das, so glaube ich, leichter genommen, als die Erwachsenen. Bei unserem Bauern Schultze waren drei Flüchtlingsfamilien untergebracht, das heißt es fehlten jeweils die Männer in den Familien. Bei so vielen Gästen hatte der Bauer natürlich auch nichts mehr zu verschenken. Auch hatte meine Mutter nicht das Geschick, um aus dem entfernten Verwandtschaftsverhältnis zum Bauern Schultze, irgendwelche Vorteile zu schlagen. Es gab zwar immer Brot und Kartoffeln, aber es war doch eine dauernde Suche nach einer Quelle für die ergänzenden Lebensmittel. Einmal kam Ruth mit einem Paket Fett nach Hause. Es kam auf unbekanntem Wege aus Hannover. Angeblich sollte es ein Lebensmittelfett sein, aber wir waren uns nicht sicher ob das auch so war. Ob wir das Fett dann auch verzehrt haben weiß ich nicht mehr.
Es kamen regelmäßig Leute – so genannte Hamsterer – an die Türen der Bauern, um nach Lebensmitteln zu betteln, teils mit - teils ohne Erfolg. Schwester Lilo hatte damals schnell dazu gelernt. Auch sie ging in die Nachbardörfer und hamsterte --- mit Erfolg. Ich fand das damals sehr mutig von ihr, Lilo war ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen.
Gelegentlich kam der Schornsteinfeger auf den Bauernhof. Der Schornstein musste ja regelmäßig gefegt werden. Wenn der Mann dann ging, bekam er immer auch einige Eier geschenkt. Die Eier legte er dann, zu meiner Verwunderung, in seinen schwarzen Zylinderhut und setzte ihn auf seinen Kopf. In Abständen kam, im Laufe des Jahres, auch ein Mann mit einem Schallplattenspieler und spielte einige Platten ab. Dafür bekam der Musiker auch sein Honorar, natürlich in Naturalien.
Weil Lilo zum Konfirmandenunterricht ging, fiel es auf, dass wir Kinder alle nicht getauft waren. Das wurde am 24. Juni 1946 nachgeholt: An einem Sonntagnachmittag kam der Pastor Jablonsky, aus Meuchefitz zu uns. In der großen Stube vom Bauern Schultze wurden Fred, Lilo, Erika und ich getauft. Ruth, die älteste Schwester wollte sich nicht mehr taufen lassen. Fred und Ruth wohnten zu der Zeit bei ihren Arbeitgebern. Der Konfirmandenunterricht für Lilo fand zweimal in der Woche, für jeweils zwei Stunden statt. Wer fehlte, musste eine schriftliche Entschuldigung beibringen. Die evangelische Kirche war damals noch sehr präsent in den Dörfern. Wer im Konfirmandenunterricht nicht aufpasste oder nicht genug gelernt hatte, der wurde vom Pastor grob an den Haaren oder den Ohren gezupft. Vor der Konfirmation fand dann natürlich auch eine strenge Prüfung statt. Ein Konfirmand konnte bei der Prüfung auch durchfallen.
Vom Bauern Schultze hatten wir ein kleines Stück Ackerland bekommen, das wir als Gemüsegarten nutzen konnten. Tabak gab es nicht zu kaufen und viele Männer pflanzten sich ihren Tabak selbst an. Die Tabakblätter wurden getrocknet, geschnitten und der Tabak mit Papier, auch Zeitungspapier, zu Zigaretten gedreht. Zeitweilig baute ich für meinen Vater auch Tabak an. Ich weiß nicht mehr ob er noch in Gefangenschaft, oder schon wieder in Hamburg war. Für mich war das aber kein Grund mit dem Rauchen zu beginnen. Mit meinen Freunden hatte ich mal Eichenblätter geraucht. Die waren uns aber nicht bekommen.
Im Sommer suchten wir Pilze und Beeren. Die Blaubeeren waren besonders beliebt, aber der Weg dahin war sehr weit und wir mussten ihn mit dem Pferdewagen fahren. Das Pflücken der Blaubeeren unter den Mückenschwärmen, ohne den heutigen Mückenschutz war sehr unangenehm und mühsam. Von Bayern hatten wir gehört, dass dort die Blaubeeren mit dem Kamm von den Sträuchern geerntet wurden, aber davon träumten wir immer nur. Ein Teil der gesammelten Pilze wurde von uns getrocknet. Damals wurden ich von den anderen Pilzsammlern, pilzkundig gemacht. Heute traue ich mir das Pilzsammeln nicht mehr zu, obwohl wir mehrere Pilzbücher besitzen. Es fehlt einfach die Übung. Auch vermisse ich heute die mir noch bekannten Sorten wie: Butterpilz, Steinpilz, Pfifferling, Birkenpilz, Krempling und Champignons.
Wir Kinder holten uns im Sommer oft Äpfel von den Straßenbäumen, die für uns leider viel zu hoch hingen. Aber mit einem Steinwurf in den Baum, hatten wir doch immer wieder Erfolg. Zur Erntezeit wurden die Straßen-Apfelbäume im Dorf versteigert. Meine Mutter hatte sich mit einer anderen Familie einen Apfelbaum geteilt. Weil wir die vielen Äpfel nicht alle sofort essen konnten, wurden sie klein geschnitten und an der Luft getrocknet. Ein anderer Teil wurde zu Apfelmus verarbeitet.
Das Schuhzeug war in dieser Zeit besonders knapp. Oft, auch im Winter trugen wir Holzpantoffeln oder Holländer, beide waren aus Holz und wurden von einem tüchtigen Handwerker gefertigt. Nur mussten wir das Leder dazu selbst beschaffen. Die Holzpantoffeln wurden so weit abgetragen, dass an der Hacke nur noch ein hauchdünnes Holzplättchen übrigblieb. Eine Gummisohle gab es nicht. Immer wurde das Leder von den aufgetragenen Holzschuhen gelöst, um dann auf die neuen Pantoffeln gearbeitet zu werden. Einmal hatten wir großes Glück gehabt. Ruth und Fred hatten auf dem Nachhauseweg, durch ein anderes Dorf, unter einem Busch versteckt, einen Medizin- und einen Schleuderball gefunden und mit nach Hause gebracht. Das Leder der beiden Bälle reichte uns für viele Holzpantoffeln und als Riemen für die Holländer. Wir gaben auch anderen Flüchtlingen davon ab.
Später taten mir die Kinder, welche die Bälle unter dem Busch versteckt hatten, sehr leid, denn die Bälle gehörten bestimmt einer Schule oder einem Sportverein und stellten zu der Zeit einen unersetzlichen Verlust dar. Eine Tracht Prügel hat es für die Kinder bestimmt gegeben. Aber wir benötigten das Leder doch auch für unsere Schuhe......
Einer meiner Freunde hatte ein Paar Überziehschuhe. Das waren ein Paar leichte Gummischuhe, die man über den Lederschuh ziehen konnte. Mein Freund trug den Überziehschuh aber ohne den Lederschuh, denn den hatte er nicht. Oft habe ich den Freund um die Gummischuhe beneidet, denn sie waren so schön leicht. Meine Mutter hatte gleich Bedenken wegen solcher Gummi-Schuhe: „Sie atmeten ja nicht und waren somit ungesund!“
Was es auf den Lebensmittelkarten gab, reichte nicht, um uns zu ernähren, denn es gab nicht immer das, was zur Ausgabe angekündigt war. Süßigkeiten standen zwar auch auf der Lebensmittelkarte, doch sie wurden nicht zum Verkauf aufgerufen. Einmal sollten Bonbons kommen, aber dann hieß es, der Lastwagen mit der süßen Fracht sei verunglückt -- und alle Bonbons waren kaputt? Wahrscheinlich aber, hatte es gar keine Bonbons gegeben oder sie waren in eine andere Richtung verschoben worden.
Einmal ging ich am Vormittag in den Hühnerstall vom Bauern Schultze und steckte mir zwei Eier unter den Pullover. Vor dem Hühnerstall verlor ich jedoch ein Ei und fürchtete, dass mein Diebstahl entdeckt werden könnte. Die Hühner kamen mir aber zu Hilfe und pickten das zerbrochene Ei schnell wieder auf. Ein anderes Mal schnitt ich mir in der Speisekammer des Bauern, ein Stück fetten Speck ab und verspeiste es am Tatort, doch leider musste ich mich kurz danach heftig übergeben.
Am Dorfrand befand sich eine unbewohnte Kate. Beim Spielen in der Kate entdeckten wir Kinder einmal ein Hühnernest mit vierundzwanzig Eiern. Jeder von uns Jungen griff so schnell, als möglich zu und das Nest war augenblicklich leer. Nicht ein einziges Ei ließen wir zurück. Das war ein Fehler! Ich ging immer wieder zu dem Hühnernest, aber es blieb leer. Später erfuhr ich, dass wir mindestens ein Ei in dem Nest hätten liegen lassen müssen, damit die Henne weiterhin Eier darin ablegt.
Wir Kinder versuchten an allem Möglichen Geschmack zu finden. Kerzenwachs nahmen wir als Ersatz für Kaugummi, den wir von den amerikanischen Soldaten kannten. Auf dem geschmacklosen Wachs kann man stundenlang kauen, ohne dass es weniger wird. Besser schmeckten da getrocknete Zuckerrübenschnitzel, die als Viehfutter dienten. Diese Schnitzel schmeckten wenigstens etwas süß und sie sättigten auch. Im Winter fanden wir beim Bauern Schultze auf dem Boden einmal getrocknete Äpfel und Birnen. Davon durften wir natürlich nur sehr wenig naschen, damit es niemand merkte.
Die amerikanische Bevölkerung hatte nach dem Krieg großes Mitleid mit uns und schickte sehr viele Care-Pakete nach Deutschland. Care war der Name für eine amerikanische Hilfsorganisation. Meine Mutter erinnerte sich an entfernte amerikanische Verwandte und nahm Verbindung zu ihnen auf, mit Erfolg. Wenn dann ein Paket aus Amerika kam, wurde es immer sehr spannend, denn die Frau, der zweiten Flüchtlingsfamilie beim Bauern Schultze, hieß auch wie meine Mutter: Maria Neumann. Der Name des Absenders entschied dann über den Empfänger des Pakets.
Die Absender unserer Pakete betrieben eine Bäckerei. In einem beigelegten Brief schrieben sie, dass sie zu Weihnachten vierundzwanzig Pakete verschickt hatten! Und sie waren sicher keine Millionäre. Unsere Pakete enthielten überwiegend Zucker, Mehl, Kaffee, Kakao, Schokolade, Kekse, Gewürze und Kerzen. Einmal war ein Paket stark beschädigt worden. Mehl und Zucker waren teilweise vermischt angekommen. Es waren auch fünfundvierzig abgezählte, nicht eingewickelte Bonbons dabei. Ein anderes Mal bin ich heimlich an unser Paket gegangen und brach mir von der Schokoladentafel das erste Stück ab, und dann ging ich noch einmal, und noch einmal, bis die Schokolade alle war. Sehr viel später taten mir meine Geschwister leid, weil sie von der Schokolade nichts abbekommen hatten. Ob ich bestraft wurde weiß ich nicht mehr.
Als die beiden großen Geschwister Ruth und Fred von der der Kinderlandverschickung zurückkamen, es muss im Jahre 1944 gewesen sein, da wohnten sie nur sehr kurze Zeit bei uns in Kremlin. Wie die beiden uns gefunden haben, weiß ich nicht. Wir waren ja erst nach Viöl und dann kurze Zeit später, nach Kremlin weitergebracht worden. Ruth fand schnell Arbeit auf einem Bauernhof im Dorf Jeetzel. Fred dagegen begann eine Klempnerlehre im Dorf Schnega. Beide Geschwister wohnten bei ihrem jeweiligen Arbeitgeber. Freds Lehrlingsgehalt betrug damals sechs Reichs Mark im Monat.
Bei Ruth erinnere ich mich, dass sie sich gemeinsam mit einer Freundin einen Büstenhalter genäht hat. Das war eine sehr aufregende Sache gewesen. Fred kam gelegentlich mit dem Fahrrad von seiner Lehrstelle in Schnega, zu uns gefahren. Einmal lieh ich mir sein Rad aus und stürzte. Mir war nichts passiert. Aber der Tretlagerarm war so verbogen, dass er sich nicht mehr drehen konnte. Ich stellte da Fahrrad stillschweigend wieder ab. Erst, als Fred nach Schnega zurückfahren wollte (15 km), bemerkte er den Schaden. Glücklicherweise konnte er den Tretlagerarm noch wieder richten.
Während bei allen Flüchtlingen und auch bei den Bauern der totale Mangel herrschte, lebte eine Flüchtlingsfamilie im Überfluss. Es waren Angehörige des Gauleiters Öchsle, eines hohen politischen Nazi-Beamten. Wir Anderen konnten an dem Überfluss der Öchsles nicht teilhaben. Diese Familie wohnte glücklicherweise nur kurze Zeit beim Bauern Schultze. Aus Ostpreußen wurde danach die Familie Paschek bei den Schultzes einquartiert. Es war die Oma Schäfer, ihre Tochter Christel mit den Söhnen Rüdiger und Dieter. Dieter war ein Jahr älter als ich. Rüdiger übertraf mich um fünf Jahre. Besonders Dieter war bis zu unserer Rückkehr nach Hamburg mein engster Freund. Der Vater der beiden Jungen war im Krieg gefallen.
Mit den Pascheks und der zweiten Familie Neumann, teilten wir uns die sogenannte Schweineküche. Auf der warmen Wand neben unserem Küchenherd saßen ständig eine Unmenge Fliegen, die aus dem Schweinestall herüberkamen. So kam es regelmäßig vor, dass mal eine Fliege im Kochtopf landete. Die wurde dann herausgefischt und damit war der Fall erledigt.
Die Frau Paschek hatte die höhere Schule besucht und das sollten ihre beiden Söhne auch einmal und da der erste Dorfschullehrer ja erhebliche schulische Mängel aufwies, achtete sie bei der Aussprache von uns Kindern immer darauf, dass wir keine Fehler machten. Manchmal mochte ich gar nicht sprechen, um damit einer Berichtigung durch Frau Paschek zu entgehen. Andererseits hat das meinen Lernerfolg natürlich auch gefördert.Meine Mutter verlegte sich bei mir auf das Buchstabieren von Wörtern, ich musste regelmäßig die schwierigen Worte aus meinem Sprachgebrauch buchstabieren. Einmal sollte ich das Wort Stuhl buchstabieren. Ich buchstabierte: “S-C-H-T-U-H-L“, nach der Devise: “Schreibe so wie du sprichst“.
Wie ich in der Schule, als auch zuhause, bemerkt hatte, sollte die deutsche Sprache doch sehr genau gesprochen werden. Eines Tages befand ich mich mit der alten Frau Schultze (ca. 60 Jahre alt) allein in der Küche. Für uns Neumanns war sie unsere Tante Anna. Sie war schon stark vom Rheuma geplagt. Da sagte sie zu mir: „Erich giff mi mohl dat Wors röber“. Ich hatte genau verstanden, denn auf dem Bauernhof wurde ständig nur Plattdeutsch gesprochen. Aber ich meinte, wenn schon, dann sollen auch die Erwachsenen ordentlich Deutsch sprechen. Deshalb sagte ich zu der Bäuerin: „Tante Anna, aber das heißt doch: Gib mir mal die Wurst rüber“. An die Erwiderung von Tante Anna erinnere ich mich nicht mehr.
Auf dem Bauernhof der Schultzes und im ganzen Dorf gab es für uns Kinder viel Platz und auch viele Spielmöglichkeiten. Gemeinsam mit den anderen Kindern verbrachte ich viel Freizeit. Wir kletterten auf Bäume, brachen das weiche Holz der Kopfweiden heraus, räucherten Hornissennester aus, bauten Erdhöhlen, spielten mit dem offenen Feuer, bauten Tuten aus gewickelter Erlenrinde und einem Mundstück aus Pusteblumenstil, fertigten kleine Flechtwerke aus Binsen und strichen durch Wald und Flur. Wenn es nur um die Spielmöglichkeiten ging, dann lebten wir im Paradies. Diese vielen Möglichkeiten, gehen den Stadtkindern heute verloren.
Auf dem Hof vom Bauern Schultze lag auch ein großer Haufen alter Mauersteine und eine Menge Schieferplatten. Die Schieferplatten waren Reste vom Schieferdach der Scheune. Aus den Mauersteinen und den Schieferplatten baute ich mit den Paschek-Brüdern Häuser, die wir anschließend mit Feldsteinen so lange bewarfen, bis die Häuser wieder zusammenbrachen. Das Werfen war schon damals eine schwache Seite von mir gewesen und einmal traf ich den kleineren der Paschek-Brüder mit einem Stein am Kopf. Er hatte sich aber auch halb in die Flugbahn gestellt. Außer einer blutenden Platzwunde war glücklicherweise nichts passiert, aber seine Mutter, Frau Paschek war doch sehr aufgeregt gewesen.
An einer Stelle des Hofes wucherten mehrmals im Jahr die Brennnesseln. Uns Kindern brachte es immer viel Spaß, diese Nesseln mit einem Stock nieder zu schlagen, denn die Nesseln waren ja ein gemeines Unkraut, obwohl es uns an der Stelle nicht wirklich verbrannt hätte. Richtiges Spielzeug gab es fast gar nicht, denn wir waren ja alle Flüchtlinge, die fast den gesamten Haushalt verloren hatten.
Neben den vielen Spielmöglichkeiten, hatten wir Kinder aber auch viele Aufgaben zu erfüllen. Im Sommer musste Brennholz gesammelt werden. Das waren trockene Äste und Tannenzapfen. Der Wald in der näheren Umgebung sah immer aus, wie gefegt. Wenn wir durch den Wald gingen, dann blieben da keine Zweige und Tannenzapfen auf dem Boden liegen. Trockenes Holz durften wir sammeln, auch wenn der Wald zum Nachbardorf gehörte.
Einmal sind wir beim Holzsammeln zu weit gegangen. Im Wald standen ja auch schöne trockene Bäume. Bruder Fred sagte: „Die holen wir uns.“ In der Gemeinschaft von mehreren Jungen und Mädchen, fällten wir einige kräftige trockene Bäume. Fred (16 bis 17 Jahre alt) hatte sich beim Bauern Schultze ein Pferdefuhrwerk ausgeliehen und wir luden die geschlagenen Bäume auf den Wagen. Stolz verließen wir mit der Fuhre Holz den Wald. Jetzt waren wir für den Winter gerüstet. Doch auf halbem Weg nach Kremlin kamen die Waldbesitzer auf uns zu und reklamierten das Holz für sich. Wir hatten keine Wahl und mussten das Holz schweren Herzens ins Nachbardorf transportieren. Das war für uns Strafe genug.
Im Sommer mussten wir Torf stechen: Den Torf ausstechen und zu kleinen Türmchen aufstapeln, so dass der Wind gut durch die kleinen Türmchen wehen konnte. Natürlich gehörte immer nur ein kleiner Teil, von dem was wir erarbeitet hatten, uns. Der andere und größere Teil wurde uns als Kaufpreis dafür angerechnet, dass wir trocken Torf bekamen.
Im Herbst fuhr unser Bauer in seinen Wald und fällte gesunde Kiefernbäume, um sie zu Brennholz zu verarbeiten. Wir Flüchtlinge bekamen von diesen Bäumen das Astwerk, um es zu Brennholz zu zerhacken. Für mich war das Holzhacken eine Lieblingsbeschäftigung. Es machte mir Freude zu sehen wie aus dem großen Haufen losem Geäst, ein kleiner Haufen Hackholz wurde. Aber auch das Spalten von dicken Holzkloben machte mir riesigen Spaß.
Der Knecht Anton stapelte aus den zerhackten Holzkloben des Bauern, hohe kegelförmige, runde Pyramiden. Damit diese Pyramiden auch sicher standen, wandte er eine besondere Technik an. Zuerst legte er einen Kreis aus Holzscheiden, immer der Länge nach aneinander. Dieser Kreis bildete die Grundform der runden Pyramide. Auf die Holzscheide legte er dann nebeneinander andere Holzscheide, immer mit dem dicken Ende nach oben/außen. Den, so entstandenen Ring erhöhte er um mehrere Schichten. Dadurch, dass die Holzscheide mit dem dicken Ende nach außen gelegt wurden, bestand nie die Gefahr, dass sie nach außen abrutschen konnten, denn es bildete sich ja nach außen hin eine höhere Kante. Außerdem wurde jede neue Lage der Holzscheide ein wenig nach innen gerückt. So entstand ein leichter Druck der "Pyramiden-Haut" nach innen. Der entstandene Innenraum der Pyramide wurde dann mit der Erhöhung des Außenringes, mit ungestapelten Holzscheiden aufgefüllt. Die entstandenen Pyramiden waren so hoch, dass der Knecht Anton den oberen Teil der Pyramide mit einer Leiter vollenden musste.
Wir Kinder wurden auch zur Feldarbeit eingesetzt. Eine sehr harte Arbeit war das Rübenverziehen. Dabei rutschten wir im Frühjahr auf den Knien neben den jungen Rübenreihen entlang und zogen die schwachen Triebe heraus, damit die starken Triebe zu großen Rüben wachsen konnten. Nach der Kartoffelernte sammelten wir auf dem Feld die Kartoffeln nach, welche die Maschine liegen gelassen hatte. Ähnlich ging es nach der Getreideernte. Da sammelten wir die einzelnen Ähren auf, damit kein Getreide verloren ging. Hierbei erinnere ich mich aber an keine großen Erfolge. So mühsam die jeweiligen Arbeiten auch immer gewesen sein mochten, so tätigten wir sie doch immer in der Überzeugung, dass wir damit unsere jeweilige Situation direkt oder indirekt etwas verbessern konnten.
Ein Hof in Kremlin um 1910.
Der Bauer Schultze hatte den größten Bauernhof im Dorf Kremlin. Zum Stammpersonal gehörten ein Knecht und eine Magd, die beide offenbar keine Familie hatten. Der Lohn für die beiden, wurde damals noch jährlich ausbezahlt. Aus privaten Gründen verließen die beiden den Hof nur ganz selten. Beide hatten eine eigene kleine Kammer und man konnte sagen sie gehörten mit zum lebenden Inventar des Hofes. Anton fütterte das große - und Anna das kleine Viehzeug.
Nur Bauer Halbohm im Dorf hatte einen Trecker. Sprang der Trecker nicht an, dann mussten seine beiden Deckhengste ihn anschleppen. Wenn die Hengste oder die Bullen ihre wichtigste Arbeit verrichteten, dann sahen wir Kinder den beiden Tieren bei ihrer Arbeit immer sehr gern zu. Dadurch war uns auch schon frühzeitig klar, was es mit den Blumen und den Bienen auf sich hatte, wie es den Kindern in der Stadt oft gesagt wurde.
Weil es in unserem Dorf Kremlin nur zehn Bauernhöfe gab, mussten alle Einkäufe und andere Erledigungen in anderen Orten erledigt werden. Das erforderte regelmäßig lange Fußwege. Zum Krämer Wilke ins Nachbardorf Köhlen waren es nur eineinhalb Kilometer. Zur Schule gingen wir knapp drei Kilometer. Zum Schuster nach Wustrow betrug die Entfernung schon sieben Kilometer und in die Kreisstadt nach Lüchow, hatten wir elf Kilometer zu gehen. Nach Lüchow und Wustrow gab es eine Busverbindung, aber oft sind wir diese Wege auch zu Fuß gegangen, weil gerade kein Bus fuhr.
Auch ein kleines Schmuckkästchen aus Holz brachte mein Vater mit. Es ist das einzige Stück aus jener Zeit, dass ich noch habe.
Mein Vater war nach dem Krieg bei den Amerikanern in Nürnberg-Langwasser in einem Gefangenenlager. Dort war er in der Küche tätig. Nürnberg war vor dem Krieg das Zentrum der deutschen Spielzeugindustrie. Diese Industrie schlug auch auf das Gefangenenlager durch. Die Gefangenen beschäftigten sich intensiv mit der Herstellung von Kinderspielzeug. Als Baumaterial diente in erster Linie das Abfallmaterial aus dem Alltag, des Lagers, also Dosen, Eimer, Kisten und Reste aus der Lager-Werkstatt.
Einmal bekam mein Vater Heimaturlaub. Mir brachte er einen Roller mit. Der Roller war solide aus Holz gebaut und ich hatte sehr viel Freude daran. Auch die Räder waren aus Holz und mit Gummi beschlagen. Lilo bekam einen sehr fein gebauten Kohleküchenherd für ihre Puppe. Der Herd hatte eine Kochstelle und einen Backofen. Die Backofenkappe, wie auch die Herdklappe waren beweglich und hatten auch funktionierende Verschlüsse. Das Baumaterial für den Herd bestand überwiegend aus Konservendosenblech, auch Kupferblech war daran verarbeitet. Das kleine Ofenrohr vom Herd war zusammengelötet.
Erika bekam eine Puppe aus feinem, buntem Stoff in ver schiedenen Farben. Die Puppe hatte den Namen Leokadja. Ich erinnere, dass die Puppe uns am ersten Tag alle zum Lachen gebrachte. Für meine Mutter brachte mein Vater ein Armband mit, das aus Silbermünzen gefertigt war. Die Münzen waren gehämmert, verziert und durch kleine Glieder mit einander verbunden worden. Die Münzen als solche, waren nicht mehr zu erkennen. Auch ein kleines Schmuckkästchen aus Holz brachte mein Vater mit. Es ist das einzige Stück aus jener Zeit, dass ich noch habe. Auf der Unterseite des Kästchens steht eingraviert: Februar 46, Langwasser
Nach dem Besuch bei uns, musste mein Vater wieder in sein Gefangenenlager zurück. Im Jahre 1947 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Weil er schon vor dem Krieg bei der Polizei war, ging er nach seiner Entlassung gleich wieder nach Hamburg und zur Polizei zurück. Wir mussten in Kremlin noch weiter auf unseren Vater verzichten. In Hamburg herrschte 1947 noch ganz große Wohnungsnot und es gab noch sehr viele Trümmerflächen. Der Wiederaufbau hatte noch nicht begonnen. Für uns bestand keine Chance, auf eine Wohnung in Hamburg.
Während der größten Not, noch in Kremlin, verlor meine Mutter einmal unsere vier Lebensmittelkarten --- und O-Wunder, ein ehrlicher Finder gab die Lebensmittelkarten an uns zurück. Auch für den Finder wären die Lebensmittelkarten sicher sehr gut zu gebrauchen gewesen. Das habe ich bis heute nicht vergessen!
Der kalte Winter 1947 schmerzte uns alle sehr. Überall wurden Handschuhe gestrickt oder auch genäht. Die Wolle für die Handschuhe wurde oft durch das Aufreppeln von aufgetragenen Wollsachen gewonnen. Meine große Schwester Ruth hatte mir ein Paar Socken gestrickt. Als Material dienten die aufgedrehten Fäden eines Staub-Mobs, den wir aus Amerika bekommen hatten. Ich hatte die einzelnen, dreißig Zentimeter langen, Kordeln aufgedreht und die Fäden zusammengeknotet. Die Socken hatten dadurch unendlich viele Knoten auf der Innenseite, sie waren aber immer noch viel besser, als barfuß in den Schuhen zu gehen. Doch ich hatte Pech. Als ich einen Topf mit heißem Wasser vom Ofen nehmen wollte, rutschte er mir aus der Hand und das heiße Wasser ergoss sich über ein Bein und einen Fuß von mir. In der Folge musste die eine Socke zerschnitten werden. Bevor der Arzt kam, wurden die Wundstellen mit Mehl und mit Sirup gekühlt, was heute nicht mehr so gemacht wird. Heute ist die Devise: Kühlen, ganz einfach mit Wasser, denn Mehl und andere Substanzen führen nur zu einer Verklebung der Wunde. Als Folge der Verbrennung hatte ich am nächsten Tag zwei große Brandblasen an der Wade und auf dem Fuß. Mit Stolz zeigte ich die Blasen meinen Freunden, die mich besuchten.
Spätestens im kalten Winter 1947 lernte ich das Stopfen von Strümpfen und Socken. Beides war ja Mangelware, obwohl fast alle Frauen das Stricken schon gelernt hatten. Aber es fehlte auch an der Wolle. Alle gestrickten Kleidungsstücke, die nicht mehr getragen werden konnten, wurden wieder aufgereppelt, um Wolle für ein neues Kleidungsstück zu bekommen.
Die Flüchtlingsfrau Paschek brachte mir das Stopfen bei. Wenn es gut werden sollte, dann musste ich wie beim Weben immer einen Faden unter und einen übernehmen. Ohne Anzugeben kann ich sagen, dass mir das Stopfen sehr gut gelang und gelegentlich auch Spaß machte.
Zu der Zeit begann ich auch schon, mich für unsere Nähmaschine, die auch gerettet worden war, zu interessieren. Zuerst spielte ich nur mit dem Fußantrieb. Aber irgendwann machte ich meine ersten Nähversuche, als die Maschine aufgeklappt war und meine Mutter gerade eine kleine Pause machte.
Bei den Paschek-Jungen hatte ich mir das Sammeln von Briefmarken abgeguckt. Damals wurden sehr viele Briefe geschrieben und auch in Bauer Schultzes Sekretär lagen noch viele alte Briefe mit Briefmarken. Aber ich hatte auch neue Marken wie: Die Serie Friedenstaube, mit Werten von einer, zwei und drei Reichsmark. Wie ich mir so teure Marken kaufen konnte, erkläre ich mir damit, dass es für die Reichsmark damals nichts mehr Brauchbares zu kaufen gab. Damals war ich sehr stolz auf meine Briefmarkensammlung, auch weil Marken der Serien: Hindenburg und Germania vollständig dabei waren. Diese Marken hatte ich von Schulzes alten Briefen abgelöst. Das wertvollste Sammlerstück war ein Brief, dessen Anschriftseite fast völlig mit Marken zugeklebt war, ich glaube es waren 24 Marken. Das rührte daher, dass nach der Währungsreform die alten Briefmarken nur noch einen Bruchteil des ehemaligen Wertes hatten. Dieser Brief war abgestempelt, also echt! Leider erkannte ich den Wert des vollständigen Briefes nicht und löste alle Marken ab. Von diesen einzelnen Marken gab es aber so viele, dass sie einzeln völlig wertlos waren.
Aufbewahrt hatte ich meine Briefmarken in kleinen Tüten und als ich sie eines Tages ansehen wollte, da hatte Erika (5 Jahre) alle durch ein Tintenfass gezogen. Alle Marken waren tintenblau. Ich ließ mich nicht entmutigen und begann erneut Briefmarken zu sammeln. Bis zu meiner Lehrzeit brachte ich es wieder zu einer ansehnlichen Menge. Teilweise hatte ich die Marken dieses Mal sogar in Briefmarkenalben aufbewahrt. Weil wir auch weniger Post bekamen, hatte meine Sammelaktivität aber nachgelassen. Als ich dann einmal wieder nach meinen Marken sehen wollte, da waren sie komplett verschwunden. Dafür gab es nur eine Erklärung: „Erika hatte meine Briefmarken verscheuert.“ Meine Geschwister Fred und Lilo kamen dafür nicht in Frage und meine Eltern erst recht nicht. Mit Erika habe ich bis heute nicht darüber gesprochen. Wir standen uns auch lange Zeit nicht sehr nahe.
Für die Reichsmark gab es, vor der Währungsreform, fast nichts mehr zu kaufen. Das beste Zahlungsmittel waren amerikanische Zigaretten.
Die Schaufenster der Geschäfte blieben leer. Der Schwarzmarkt blühte und wer etwas zum Tauschen hatte, der konnte sich noch den einen oder anderen Wunsch erfüllen. Das war Flüchtlingen und Ausgebombten aber nicht möglich. Alle Bürger warteten dringend auf eine Besserung. In Kremlin gab es natürlich keinen Schwarzmarkt.
Die Besserung der wirtschaftlichen Lage begann am 20. Juni 1948 mit der Währungsreform. Die Reichsmark wurde ungültig und die Deutsche Mark wurde das neue Zahlungsmittel. Plötzlich gab es wieder alles zu kaufen, nur fehlte dann das nötige Geld. Über Nacht lagen die Schaufenster wieder voller Waren. Jeder Bürger bekam ein Startgeld von 40.- DM und zwei Wochen später noch einmal 20.- DM ausgezahlt."
Erich Neumann
Veröffentlicht am 2. Dezember 2024
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Autor/-in: Burghard Kulow, Lüchow