Das Wendland und die Wendländer vor 150 Jahren
Der Heimatkundliche Arbeitskreis Lüchow-Dannenberg wendet sich mit seinem vorliegenden ersten Jahresheft an alle Bewohner des Kreises und an alle Freunde des Wendlandes. Er möchte ihnen durch die Herausgabe von heimatkundlichen und allgemein wissenschaftlichen Arbeiten über den Bereich des Kreises Lüchow-Dannenberg helfen, Gegenwart und Entwicklung des Gebietes kennen zu lernen und zu verstehen. Daher wurden ganz verschiedenartige Arbeiten in dem Jahresheft vereinigt.
Heimatkundliche Darstellungen entstanden aber im Lande beiderseits der Jeetzel auch in früherer Zeit. Nicht wenige Pastoren, Amtmänner, Ärzte und Beamte der vergangenen Jahrhunderte sind berühmt geworden wegen ihrer sachkundigen Veröffentlichungen. Diese Arbeiten verdienen es in vielen Fällen, auch heute noch gelesen zu werden. Der Heimatkundliche Arbeitskreis bringt deshalb im folgenden einen Auszug aus einem Aufsatz, den Pastor Gravenhorst aus Wustrow im Hannoverschen Magazin vom Jahre 1817 unter dem Titel „Über die Sitten und Gebräuche der heutigen Wenden im Lüneburgischen“ drucken ließ.
Pastor Gravenhorst erweist sich als guter Kenner seiner Heimat. Das Wendland reichte schon nach seiner Ansicht an der Jeetzel von der Dumme bis zur Elbe. Diese Auffassung deckt sich demnach mit der heute bei wissenschaftlichen Arbeiten üblichen Gewohnheit, den ganzen Kreis Lüchow-Dannenberg als Hannoversches Wendland zu bezeichnen. Ganz als Kind seiner Zeit erweist sich der Verfasser jedoch, wenn er alle Dorfbewohner als Wenden ansieht. Heute würde man diese niederdeutsch sprechenden „Wenden“ Wendländer nennen und mit dem Wort nur aussagen wollen, daß es sich um Bewohner des Wendlandes handelt. Aber solche Unterscheidungen gab es vor 150 Jahren noch nicht. Zeitbedingt und daher veraltert sind auch Gravenhorsts Ausführungen über die Dorfformen. Alles andere aber, was der Pastor schrieb, bedarf keiner Erklärung. Es folgt deshalb der zwar gekürzte, sonst aber unveränderte Text:
„Noch heutiges Tages sind die Wenden, die ihre Wohnsitze in der ehemaligen Grafschaft Dannenberg und im Lüneburgischen genommen haben, ein eigenes Völkchen. Das Land, welches sie längs der Dumme und Jetze bis zum Ausfluß der letzten in die Elbe, bewohnen, ist eine der anmuthigsten und cultivirtesten Gegenden des nördlichen Deutschlands. Die fruchtbarsten dieser Gauen, besonders die Kirchspiele Lüchow, Wustrow, Satemin, Crumasel und Meuchevitz sind ebenes Land und haben einen leichten Klaiboden, der den Fleiß seiner Bewohner in den meisten Jahren reichlich belohnt, und sie weder in nassen noch in trocknen Sommern ganz verläßt. Es ist eine wahre Wonne, im Vorsommer die gesegneten Fluren der Dorfschaften Güstritz, Schrejan, Lensian, Ganse, und besonders die reinen prangenden Saaten des durch seine ausnehmende Rechtlichkeit, wie seinen vorzüglichen Fleiß und Wohlstand sich rühmlichst auszeichnenden Dorfs Jabel zu sehen. Ganze Koppeln des herrlichsten Winterweizens, (der auf den Märkten der benachbarten großen Städte den Vorzug vor jedem andern hat), des schönsten Flachses, der hohen Feldbohnen, Erbsen und anderer Winter- und Sommerfrüchte, von welchen letztern die Hirse jedoch nur in kleinern Quantitäten zum Bedarf des Hauses gebauet wird, wechseln mit einander in der schönsten Ordnung ab, und sind in einiger Entfernung von Buchen- und Eichenwäldchen oder von Knick-Befriedigungen, worin, wie auf den Höfen der Landleute, die schönsten Eschen und Ulmen wachsen, begränzt, oder auch mit Viehweiden und großen Pflanzungen von Weidenbäumen, die man fast vor jedem Dorfe findet, umgeben. Nur Schade, daß diese Viehweiden und besonders auch die an den Flüssen gelegenen Wiesen der Güte des Ackerlandes bei weitem nicht gleich kommen, sondern meistentheils einen mit Moor überwachsenen Sandboden haben, und daher keine recht hülfreiche Grasung liefern, auch in nassen Sommern entweder gar nicht, oder doch nur mit großer Gefahr und Beschwerde geerndtet werden können.
Die Dörfer in diesem schönsten Theile des Wendlandes sind von doppelter Bauart. Diejenigen, deren Namen es schon anzeigen, daß die Wenden den ersten Grund dazu gelegt haben, sind sämmtlich in die Runde gebauet und machen, da sie zum Theil nur eine einzige Einfahrt haben, ein geschlossenes Ganzes aus. Das Rundtheil, was die Häuser bilden, ist ungefähr von der Größe des Königsplatzes in Cassel. Sie haben in diesen runden Dörfern ihre Gehöfte, Scheuern und Ställe hinter sich. Andere Dörfer, die deutsche Namen haben, und, was auffallend ist, unter jenen zerstreut liegen, bestehen aus einer einzigen langen Gasse. Diese haben nicht das schöne Ansehen der erstern, weil hier die Scheuern an der Straße stehen, und die Wohnhäuser hinter denselben versteckt liegen. Beide Arten von Dörfern zeichnen sich indessen vor den benachbarten deutschen Dorfschaften des Lüneburgischen ungemein vortheilhaft aus, und verrathen gleich auf den ersten Blick den blühenden Wohlstand und den Sinn ihrer Bewohner für Nettigkeit und Pracht, zugleich aber auch ihren bäurischen Geschmack. An der Vorderseite der Häuser ist außerordentlich vieles, jedoch nur schwaches eichenes Ständer- und Riegelholz in lauter viereckigen Fächern verbauet. Die Thürpfosten und Fenster sind an manchen Gebäuden mit sehr grellen Farben buntscheckig bemalt, und der Giebel ist mit einem zinnernen Aufsatze, der dazu bei der Errichtung des Hauses von einer der Jungfrauen des Dorfs, die auch den Kranz dazu verfertigen, dem Eigenthümer desselben verehrt wird, oder auch mit einer Windfahne geschmückt. Ueber den Thüren aller Wohnungen und Scheunen des Landmannes findet man, außer den Namen ihrer Erbauer, biblische Sprüche oder auch Strophen aus Gesängen vom Vertrauen auf Gott, die leider wohl hie und da die gesammte Religion ihrer Bewohner ausmachen mögen.
Viele Dörfer des Wendlandes sind in den letzten Decennien zum Theil zu wiederholten Malen abgebrannt, woran die Flachsarbeiten Schuld seyn mögen, ungeachtet sich vor jedem Dorfe eine oder mehrere sogenannte Baakstaben oder kleine, völlig unausgebauete, nach vorne zu offenstehende Gebäude befinden, die zum gemeinschaftlichen Baaken oder Booken des Flachses bestimmt sind, und in andern Jahreszeiten dem Wanderer, den ein Regenwetter überfällt, da sie meistens am Wege stehen, als Caravansereys dienen. In diesen Dörfern lieset man häufig vor den Häusern in Knittelversen die Versicherung des Eigenthümers ausgedrückt: daß er aus Noth und nicht aus Uebermuth gebauet habe. Die innere Einrichtung der Wohn- und Viehhäuser ist bequem und musterhaft, und die Wohnstuben sind geräumig, hell und von ansehnlicher Höhe.. Der weniger fruchtbare Theil der Grafschaft, weiter nach Dannenberg hinunter, ist uneben und dabei sandig und morastig, hat dagegen aber den Vorzug, daß sich ansehnliche Forsten, unter welchen die Lucie die vornehmste ist, darin befinden. Aber auch hier ist fast jeder Hügel durch den Fleiß der Anwohner cultivirt. Der schönste Beweis davon ist der sogenannte Weinberg bei Hitzacker, der bis zu zwei Drittheilen seiner Höhe mit Gartengewächsen bepflanzt ist, und selbst auf seinem Rücken die schönsten Feldfrüchte trägt, die im Vorsommer wie Streifen von hellerem und dunklerem Grün von der darunter hinfließenden Elbe, und noch mehr von dem dahinter liegenden höchsten Berge des diesseitigen Elbufers, von wo aus man eine weite reizende Aussicht auf das umliegende Marsch- und Geestland hat, einen erquickenden, herrlichen Anblick gewähren. Es ist nicht zu leugnen, daß auch dieser Theil des Wendlandes, der gewiß keinen bessern Boden hat, wie manche Gegenden des Lüneburgischen, doch weit besser, als jene, cultiviert ist, und nicht nur ein weit blühenderes Ansehn hat, sondern auch bei weitem stärker bebauet und bevölkert ist. Das sogenannte Wendland ist also theils durch die natürliche Beschaffenheit des Bodens, theils durch die Industrie seiner Bewohner, den Holzmangel abgerechnet, ein herrliches Ländchen.
Durch diese verschiedenen Erwerbsquellen fließt denn, hauptsächlich für die Leinewand von Hamburg her, viel Geld, mitunter auch Schwedische Münze, die mit dem Hannoverschen Cassengelde al pari steht, ins Wendland: was neben dem Guten auch die doppelte nachtheilige Folge hat, daß daselbst alles beinahe um ein Drittheil theurer und kostspieliger ist, als in den weniger bewohnten Gegenden des Lüneburgischen, und daß die Kleiderpracht vom Bürger und Bauern entsetzlich weit getrieben wird. Die Landleute im Wendlande gehen zwar bei ihrer alltäglichen Arbeit schlecht und recht in selbstgemachten wollenen Zeugen von gefälligen Farben und Mustern gekleidet, und die Mannspersonen tragen zum Theil vom Frühlinge bis in den späten Nachsommer bei kurzen Beinkleidern nicht einmal Strümpfe; aber gewöhnlich sieht man sie doch in langen Pantalons, blauen tuchenen Oberröcken und runden Hüthen, die beide ziemlich nach der Mode geformt sind. Und das weibliche Geschlecht erscheint an Sonn- und Festtagen, und bei allen festlichen Gelegenheiten, in stark mit Golde besetzten Münzen, die hinten platt sind, in Madras und Levantinen Umschlagetüchern, die auf die Erde hängen würden, wenn sie nicht hinten am Halse in mehr als hundert Falten zusammen gespendelt würden, und in kattunen, musselinenen und seidenen Kleidern und Schürzen! Auch schmückt es sich mit vielem breiten seidenen, mit Golde durchwirkten Bande und gewaltig großen Ohrringen, die besonders im Lennengau und Nering auch häufig von den Mannspersonen getragen werden. Die nationale Farbe der gewöhnlichen Mützen und ihrer Bandbesetzung ist indessen ein grelles Roth.
Diese Sucht durch Kleider zu glänzen, von der man mit dem weisen Syrach sagen mögte: solcher Dünkel hat manchen betrogen, gehört denn freilich schon zu der Schattenseite des Wendenthums. Die Wenden sind indessen in allen andern Stücken, die Trinkgelage ausgenommen, gewiß keine Verschwender, sondern halten das Ihrige wohl zu Rathe; woher es kommt, daß die meisten auch ihre Kinder mit mehrern hundert, ja einige mit tausend und mehrern Thalern ausstatten können. Sie sind dabei gutmüthig, dienstfertig, hülfreich, zuverlässig, gegen Arme, die ihnen bekannt sind, wohlthätig, und thätig dankbar gegen betagte Hirten, die im Dienste des Dorfs unbrauchbar geworden sind. Die herkömmliche Wohlthätigkeit gegen diese letztem ist sogar zur Sitte, und dadurch in einigen Gegenden zur Zwangspflicht geworden. Gegen ihre Obrigkeit und Prediger haben sie die verdiente Achtung und gegen die Befehle des Landesherrn einen grenzenlosen Respekt. Sie sind nicht abgeneigt gegen ware und wesentliche Verbesserungen z. B. gegen Verkoppelung, arbeiten an der Abwässerung ihrer Aecker, Wiesen und Weiden gemeinschaftlich und beweisen überhaupt weit mehr Gemeinsinn, als der Lüneburgische Bauer. Viele ihrer ehemaligen schändlichen Gewohnheiten, worüber sie mit Recht von aller Welt getadelt und verabscheut wurden, z. B. die Mißhandlung ihrer betagten Eltern, haben sie gänzlich abgelegt. Die Behandlung derselben ist jetzt im ganzen genommen im Wendlande nicht schlechter als im Lüneburgischen und in andern Theilen unsers Vaterlandes. Die wohlthätige Religion Jesu, die ihre Herzen ergreifende und oft auch harte Herzen bessernde Kraft noch nicht verloren hat, und mit ihr die Aufklärung der Zeiten, die durch den Umgang mit dem Städter und Soldaten auch in die Wohnungen des Landmanns gedrungen ist, haben eine große Veränderung in seiner Denkart und in seinen Sitten hervorgebracht.“