Christian Neddens erzählt
Als ich 1921 als 8-Jähriger erstmals für einige Zeit lang nach Beseland kam, war das Leben in so einem Rundling für mich eine neue Welt. Zum Glück war es aber nicht so, dass mir alles fremd war. Wir waren schon früher mit dem Handwagen in Beseland gewesen und hatten Birnen vom Hof Gramusch geholt, die wir bei unserem Bäcker Platte auf dem Backofen trocknen ließen und die uns dann übers ganze Jahr gut zu munden pflegten. So kannten wir nicht nur Vater Gramusch, sondern auch die Familie Trumann vom gleichen Hof. Außerdem kannten wir noch drei Familien aus Beseland von Gistenbeck her, wo wir zur Kirche gingen, quasi jeden Sonntag. Da waren Schröders von Hofnummer 1, Ritters von Hofnummer 3 und vor allem eigentlich die „Riechers-Schulzen“ vom Hof Nr. 6.
Auf diesen Hof brachte Mutter nun fünf Kinder in ihrer Not als sie ohne Einkünfte dastand und die Goldstücke bedenklich weniger wurden. So konnte sie selber etwas mit Arbeiten verdienen vor allem das tägliche Brot. Wir wurden dort nicht nur familiär aufgenommen, betreut und versorgt. Wir waren in einem Haus, wo wie zu Hause zu Tisch und danach gebetet wurde, wo früh und abends eine Andacht gehalten wurde mit Gesang, Lesung und Gebet. Natürlich wurden wir, unseren Fähigkeiten entsprechend, zu Arbeiten herangezogen, so dass wir immer irgendwie beschäftigt waren, sei es in Kirche, Haus und Hof oder auf den Feldern. Dabei blieben wir immer in der Clenzer Schule. Mutter ließ es nicht zu, dass wir in die Bussauer Schule gingen. Unser Aufenthalt in Beseland war sicher nur als kurzer Übergang gedacht. Ernst-August, unser ältester Bruder, konfirmiert, war zeitweilig beim Onkel Christoph Meyer in Klein Sustedt, danach in Gistenbeck auf dem Schnellschen Hof (später Ebeling).
Indes blieben wir fünf jüngeren schulpflichtigen Kinder nicht lange zusammen auf dem Schulzen Hof Nr. sechs. Martin und ich kamen auf den Hofnummer 3 zu Ritters, Adolf Ritter, heimgekehrter Soldat (mit Kopfverwundung), hatte Schulz’ Tochter Anna geheiratet und (mit Hilfe der Aussteuer?) diesen Hof zum Bewirtschaften übernommen. Es war ein Pachthof
Das war keine Trennung für uns. Wir Geschwister sahen uns auf dem täglichen weiten Schulweg, über den Karnickelberg, wo wir unseren gewohnten Kirchturm genug sehen konnten. Wir sahen uns auch bei vielen Arbeiten, zum Beispiel Rübenpflanzen, Kartoffel ausmachen, Kühehüten und so weiter. Aber wenn das mal nicht genug war, schauten wir über die “Hecken-Tür“, wo man den Rundling überblicken konnte mit den anderen halb offenen “Groot Dörs“. Wenn die Zeit des Fütterns, Tränkens, und Melkens war, fanden alle Hofinsassen gerne so viel Zeit, den Blick über die “Hecken“ streifen zu lassen in die Runde. Der eine schaute nach der Liebsten, die andere ebenso zurück und wir schauten gegenseitig zum Nachbarn, um uns kurz zuzuwinken oder gar entgegen zu springen.
Um die Schularbeiten oder gar um die Zeugnisnoten machte man sich scheinbar damals in der Dorfrunde wenig Sorgen und Mühe. Ich erinnere mich allerdings, dass ich mal ein Problem mit der Hausaufgabe hatte. War es ein Aufsatz? Jedenfalls war Besuch im Hause Ritter zu der Zeit, als ich mit Tinte und Halter darangehen wollte, so dass ich damit in meine Schlafkammer schlich, das Tintenfass aufs Fenstersims stellte und auf dem runden Buckel einer Wäschetruhe die Hausarbeiten ins Heft schrieb. Dabei hat es böse Tintenkleckse zur “Dekoration“ der Schönschrift gegeben. Ob ich dafür Hiebe in der Schule bekam oder nur etwas Angenehmeres, ist mir nicht in Erinnerung. Aber sonst verlief das Leben so, wie wir es kannten und gewohnt waren oder wurden.
Das Alltägliche.
Erste Arbeiten in der Frühe
Die in den mittleren Jahren stehende Hausfrau und Bäuerin pflegte als erste aufzustehen und an die Schlafkammertüren zu klopfen, wobei sie die Vornamen rief, bis eine Antwort, ein Zeichen des Wachgewordenseins, zurückkam. Meist war der Pferdeknecht oder wer das Gespann auf dem Hof führte, der erste auf der “Groot-Dääl“. Der öffnete den einen Flügel der “Groot-Döör“, indem er den Keilpflock aus der groben Krampe zog, die beide Flügel zugehalten hatte. Der Keilpflock, der an einer dünnen kurzen Kette hing, wurde gleich hinter dem linken Flügel wieder fest eingeschoben. Dieses Öffnen eines Flügels bedeutete Licht und Luft für die “Groot-Dääl“. Im Sommer wurde mindestens ein Flügel weit geöffnet, im Winter beließ man es mit einem Spalt je nach Kälte. Die leichte Kette am Keilpflock ermöglichte es, die Öffnung nach Bedarf zu regulieren. Sie war in halber Höhe der Flügeltüren, also über Kopfhöhe an dieser befestigt.
Der Gespannknecht, der auch Sohn oder Bauer selber sein mochte, hatte als erstes nämlich sofort den Pferden das erste Futter einzugeben. Unter Futter verstand man nicht irgendeine Tiernahrung. Vielmehr war es eine gezählte Maßeinheit aus Häcksel und Hafer. Die Mischung wurde in der Häckselkiste in einem mäßig großen Mollkorb angerührt nach eigenem Ermessen und in Berücksichtigung der Arbeit, die die Pferde eben zu leisten hatten. Zum Abmessen des Hafers war ein geeignetes Gefäß im Haferabteil der Kiste. Gab man zu viel Hafer, wurden die Pferde nicht nur leicht übermütig. Es konnte in arbeitsarmer Zeit zum Beispiel vorkommen, dass sie "Verschlag" bekamen, eine Art Verstopfung mit Blähungen. Die Pferde brauchten zum "Schroten" des Futters immerhin geraume Zeit, während der Kutscher die Pferde striegeln, tränken, streuen und aufschirren konnte.
Aber auf vielen Höfen, wo entsprechende Hilfskräfte fehlten, hatte der Kutscher auch das Rindvieh zu versorgen. Diese Arbeiten wurden damals auch von uns erledigt. In Beseland gab es wenig Wiesen und Weiden, so dass die Tiere die längste Zeit des Jahres im Stall gefüttert werden mussten. Da wurde im Sommer frischer Klee vom Feld angefahren, mit der Sense gemäht. Die Fuhre reichte etwa zwei Tage und nicht länger. Das grüne Mischfutter zum Beispiel Landsberger Gemenge aus Inkarnatklee welchem Weidelgras und Zottelwicke beigefügt wurde. Es würde sonst zu welk. Auch würden sich größerer Haufen selbst erhitzen.
Zur Winterzeit wurden Futterrüben gemahlen und mit Haferkaff oder Haferhäcksel vermischt. Zuvor mussten die Rüben geputzt werden. Der größte Schmutz war zu entfernen. Sie wurden gleich in die Rübenmühle geworfen bis diese voll war und wurden durchgedreht mit Hilfe der Handkurbel. Die Spreu war darunter ausgebreitet, damit der wertvolle Saft der Rüben aufgefangen wurde. Mit dem Fassungsvermögen der Mühle wurde die benötigte Menge gemessen. Vielfach wurde hierbei abends und sonnabends vorgearbeitet. Der Haufen des Gemischs wurde in diesem Fall etwas flach ausgebreitet.
Melken
Inzwischen waren die Frauen oder eine Bäuerin oder Magd schon zum Melken in den Kuhstall gegangen. Bei unseren Tiefställen musste man besser sagen sie waren gestiegen. Zuvor hatte sie nach dem Waschen die benötigten blanken Milchkannen bereitgestellt mit dem breiten Sieb und dem zusätzlichen sauberen Seituch. Jetzt kam es darauf an, beim Füttern keinen Unfug zu machen, indem man das Grünfutter an falscher Stelle in den langen ungeteilten Trog gab. Die sonst so braven geduldigen Milch- und Muttertiere konnten doch die Beherrschung verlieren und vergessen, dass die Melkerin mit dem Eimer unterm Bauch zu Gange war. Wenn so einer Kuh das Wasser im Maul zusammenläuft, bleibt es nicht dabei, die Zunge weithals auszustrecken nach dem Futter. Sie versucht, wer wollte dafür kein Verständnis haben, in den Trog zu steigen und dabei steigt dann ein Hinterbein allzu leicht in den sauberen Milcheimer oder der Melkerin auf die Füße.
Es gab also bei der damaligen primitiven Landwirtschaft einige Kleinigkeiten zu lernen. Das merkten vielleicht andere Erwachsene aus der Stadt häufig mehr, als wir. Zum Beispiel, wenn man hilfreich mit zupacken mochte. Also in diesem Fall erst gucken unter welcher Kuh die Melkerin sitzt! Das ist jedenfalls für jeden gleichermaßen erlernbar.
Die Uhrzeit des Aufstehens wurde in erster Linie vom Milchwagenfahrer bestimmt. Wegen der Wärme und der Gefahr des Säuerns und Verderbens der Milch fuhr der Milchkutscher im Sommer natürlich viel früher als im Winter, wenn die Tage von Natur schon kurz sind. Der Fahrplan des Milchwagens war selbstverständlich mit der Molkerei abgestimmt. Wenn jemand die Kannen noch nicht gebracht hatte, musste der Milchwagen warten. Das würde fast einem Skandal gleich kommen. Das ganze Dorf würde es genüsslich zur Kenntnis nehmen und sicher nicht mit hämischen Sticheleien sparen. Also sorgte auf diese Weise der “Rundling“ schon für ausreichend Disziplin in Hinsicht auf Pünktlichkeit, Verträglichkeit und Ordnung.
Wer die Milchkannen zur Milchbank schaffte, hing von der einvernehmlichen Arbeitsverteilung ab. Die 20 l Kannen in vollem Zustand auf die hohe eichene Bank zu wuchten, war eigentlich für Frauen eine Zumutung. Aber die meisten Frauen waren es offenbar längst gewohnt. Zudem, so schien es manchmal, wurde diese Arbeit ganz gern gemacht. Zum kurzen Schwatz war fast immer Zeit genug. Und manches ließ sich durch Dralligkeit wieder aufholen.
Auf der Groot-Dääl gab es, soweit nicht vorgearbeitet war, Stroh zu schneiden und die Ställe zu streuen. Die Tiere wurden damals meistens noch mit einem Eimer und Wasser aus der Küche getränkt. Bei den meisten wurden diese Arbeiten einschließlich der Milchkannen, die auf der Schiebkarre mit Sprossen zur Dorfmitte gebracht waren, erledigt, bevor gefrühstückt wurde.
Frühstück
Diese erste Mahlzeit hieß damals aber bei uns “Kaffeetrinken“. Es gab neben dem Kaffee, der meist aus Ersatz bestand, leichtes Essen. Außer Brot und Butter, Schmalz, Sirup, Pflaumenmus usw. stand meistens ein Körbchen mit den so genannten Bröcken auf dem Tisch. Das waren geschnittene Brocken von Kuchen, die am Backtage gleich frisch nach dem Backen geschnitten worden waren und, die Nachhitze ausnutzend, gleich noch mal auf dem Blech in den Ofen kamen. Sie wurden damit zum “Zwieback“. Diese Bröcken wurden meist in den warmen heißen Kaffee gestippt. Die Älteren taten es, wegen der fehlenden Zähne, wir Kinder, um nicht so viel zu verkrümeln.
Bei uns frei kirchlichen Familien wurde ja davor die Andacht gehalten. Es bedeutete, dass alle versammelt sein mussten, bevor begonnen wurde. Es bedeutete somit auch, dass alle hinsichtlich ihrer Arbeit darauf eingerichtet waren, beziehungsweise sich danach richteten, bzw. die Arbeiten entsprechend aufgeteilt wurden. Da wurde zum Beispiel zum Füttern der Schweine in einem 150 l Kessel, dem Futterkessel in der Futterküche, warmes Wasser gemacht. Buschvasen lagen bereit vom Vortag und Scheitholz. Da normalerweise alle Tage die gleichen Tätigkeiten zu erledigen waren, die jeder kannte, fiel die Arbeitszuteilung nicht schwer. Mittelpunkt war die Küche, von der aus alles zu übersehen war. Der Duft des aufgebrühten Kaffees trug dazu bei, dass sich alle ohne viel Auflesens zur Mahlzeit zusammenfanden.
Feldarbeit
Die Bäuerin konnte inzwischen dem Pferdeknecht und etwaigen anderen Angehörigen, die mit aufs Feld fuhren, das Frühstück einpacken in die lederne Tasche mit dem Trageriemen. Sie wurde gewöhnlich an die Leiter des Ackerwagens gehängt. Sie enthielt die grau gesprenkelte Kaffeekanne mit dem Drahtbügelschnappverschluss, reichlich Brot und genug Speck oder Wurststücke. Das überreichliche Brot gab der Pferdeknecht gerne seinen Tieren.
Auf den Feldern wechselten die Arbeiten. Fürs Gespann gab es zu pflügen, zu eggen, zu grubbern, kultivieren. Die übrigen hatten den Stalldung auszubreiten, Kartoffeln oder Rüben zu roden, zu sammeln und aufzuladen. Es gab zu hacken, zu pflanzen, zu jäten, besonders Disteln und Hederich, und zu mähen u.a. Grünfutter.
So zogen von jedem Hof täglich die Leute auf die Felder je nach Jahreszeit zu den gleichen Arbeiten in der Runde der Feldmark. Man begegnete sich und plauderte. Fast wusste jeder wo sich jeder andere Dorfbewohner aufhielt. Jeder sah, was draußen gemacht wurden.
Bis in den Herbst blieben mein Bruder Stephan und ich in Beseland, Stefan bei Riechers, ich bei Ritters. Wir mussten uns zum Winter 1921/22 im Dachgeschoss von Kirchstraße 13 in Clenze einrichten. Unten hatte Mutter an eine Kriegerwitwe vermietet. Die Inflation nahm weiter ihrem mysteriösen Lauf. Die ältere Schwester, Maria, war nach der Konfirmation bei Riechers im Dienst geblieben, Hanna und Martin waren beide zu dem Onkel in Klein Suhstedt, bzw. zu dortigen Bauern gekommen, wo Mutter sie in guter Umgebung und Aufsicht wähnte. Die Schule war da im Dorf. Sie war leider achtklassig und nicht das Wünschenswerte.
1927 Vor der Stellmacherlehre
Am Ende der Schulzeit 1926/27 hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Stellmacher zu werden, das heißt zu lernen, obgleich mir von allen Seiten geraten wurde, Schumacher zu werden. Unsere Mutter hatte bis dahin einen Teil des Leistenbestandes über die Jahre gerettet. Sie gab nach und besorgte mir eine Lehrstelle im Kreis Uelzen als Rademacher. Ich konnte diese aber erst zu Michaeli 1927 antreten. Zu Ostern wurde ich konfirmiert und schulentlassenen. Wir machten keine langen Umstände, die fünf Monate bis zum Lehrantritt zu überbrücken. Ich ging wieder nach Beseland auf den vertrauten Hof Nr. 3 zu Ritters, um neben dem täglichen Brot noch etwas Geld zu verdienen. In Clenze waren Land und Wiesen verpachtet und Mutter hatte keine Tiere zu versorgen.
In Beseland gab es reichlich zu tun. In der sonst arbeitsarmen Zeit im Mai gab es Brennholz zu spalten und zu stapeln, Busch anzufahren und “Bündgen“ zu machen. Diese Kiefernbuschbündchen waren das richtige Brennmaterial unter dem Futterkessel. Täglich mussten ja Kartoffeln für die Mastschweine gekocht werden. Ich glaube, wir bündelten ein paar 1000 Buschvasen, die dann auf den Stallboden gestakt und verstaut wurden zum Trocknen. Die ledige Schwester bei Ritters, Emma, schaffte mit der Maschine nämlich täglich 100 Bündchen und es dauerte nicht lange, bis auch ich wetteifernd diese Stückzahl täglich schaffte. Daneben besorgten wir die normalen Futterarbeiten. Dann rupften wir Hederich aus dem Haferfeld und Disteln zum Schweinefutter.
In der Dorfrunde hatte sich in den vergangenen sechs Jahren einiges verändert. Die finden Petermerks um waren aus dem Dorf verzogen. Klaucken-Schulz bewirtschafteten den Hof der Tante, die Nummer neun, mit. Heiner Gramusch war aus Russland heimgekehrt und hatte geheiratet. Frau Trumann war nach Clenze verzogen. Herr Colany von Hof Nr. 5 war verstorben. Frau und Tochter nach Prießeck zu den Verwandten Fricke gezogen. Schröders hatten die Pachtung von Hof Nr. 1 aufgegeben und eine Pachtung im Rundling von Prießeck angenommen. Irrtum! Das war erst später! Den Hof Nr. 5 (Colany) hatte die Familie H. Schaat gekauft. Die wirtschafteten mit zwei leichten Pferden und betrieben daneben einen Flaschenbierhandel. Heinrich Stark von Nr. 12 hatte geheiratet. Auf dem benachbarten Hof Nr. 4 war Arthur Lepa als Großknecht gekommen. Er spielte in der Freizeit abends gerne auf der Ziehharmonika schöne bekannte Lieder. Simons hatten 3 Jungen bekommen. Aus den früheren sieben halb offenen Hecken-Groot-Döörs waren sechs geworden.
Im Mai war auch die Zeit der gemeinschaftlichen Wegebesserung. In diesen Wochen wurden die Felder mit Hacken sauber gehalten, um das Unkraut niederzuhalten. Je nach Wetter wechselte man zum Rübenpflanzen.
Bekanntmachung
Unserer Lütt-Schulz wusste schon, wie es mit den Feldarbeiten stand. Er schaute auch nach dem Wetter und wenn es ihm geraten erschien, schrieb er nicht erst lange einen Zettel mit Einladung für den Bekanntmachungsknüppel, um ihn in den langweiligen Umlauf zu geben. Er wählte eine günstige Tageszeit, mittags oder abends, ging unter die Dorfeiche und rief sein Anliegen in die Runde: “Kamt mol all up Dörp tosaam!”. Dabei legte er eine offene Hand an den Mund und hielt das “saaam” mit gewaltiger Lunge so lange an, bis er sich in alle Richtungen gedreht hatte.
Das war 1921 schon so gewesen und sicher schon früher. Die zwei abseits liegenden Häuser waren wohl auf andere Weise verständigt. Aus der Dorfrunde kamen die Vertreter bald zusammen. Es gab ja die modernen Geräuschemacher noch nicht: Staubsauger, Radios, Heimwerkermaschinen, Autos und so weiter.
Ritters hatten ein etwas leichteres Pferdegespann, etwa 10 ha Land und außer der Hofkoppel keine Wiese oder Weide. Wie zumeist alle dortigen Landwirte hatten sie mehr Schweinemast und Schweineaufzucht, als Milchvieh und andere Rinder. Es gab aber für eine intensive Bewirtschaftung reichlich Arbeit. Im relativ arbeitsarmen Mai wurde Holz gespalten und gestapelt, Busch vom Kiefernforst angefahren und zu Bündgen gehackt. Diese waren ja das wirtschaftlichste Heizmaterial für die Futterküche, wo täglich die Kartoffeln im 150 l Kessel gekocht wurden und zusätzlich Wasser angewärmt wurde zum Schweine füttern, bzw. zum an rühren des Eintopf-Futters.
Außer dem Ehepaar Ritter mit den Kleinkindern war die Schwester von Adolf Ritter, Emma, auf dem Hof. Was die so leistete, war erstaunlich. Zum Beispiel schaffte sie tagsüber neben ihrer Futterarbeit um die 100 Stück Bündgen zu hacken. Für mich war das eine Zielvorgabe, bis ich das auch schaffte neben dem Rindvieh füttern, tränken und streuen. Wir hatten aber hierfür eine praktische Maschine, vom Schmied hergestellt. Das kurz gehackte Busch wurde da eingelegt, per Hebel gepresst und so leicht mit gebrauchtem Bindegarn eingebunden. Bald waren alle Schuppen und der Schweinestallboden mit Brennmaterialien vollgestopft. Dann rupften wir Disteln und Hederich in die Schürzen, die zum Füttern heim geholt wurden.
Als Halbstarker, wie man damals sagte, fand ich unter den rund 60 Einwohnern keinen Alterskameraden. Das war nicht schlimm. Es war im Dorf mit der Freizeit doch so, dass wir sie uns selber einrichteten, so weit es nicht das Wetter tat. Man arbeitete vorher oder nachher um so schneller. Es wurde genug Unfug getrieben und unter den zusammen arbeitenden Geschlechtern geschäkert, gehänselt und geneckt. Bei Begegnungen gab es fast immer Bonmot, witzige Redensarten oder Sprüche, die man neu erdacht und aktuell angebracht hatte. Verfeindungen waren selten und nicht von Dauer. Trotzdem gab es einen Leistungsdruck wie zum Beispiel bei unserem Buschholz hacken und bündeln. Was von anderen vorgemacht wurde, wollte jeder auch können, in der gleichen Zeit und Menge und mit gleicher Qualität und Ausdauer.
Das war bei den weiblichen Landleuten nicht anderes, als bei den männlichen. So quälten wir uns als Halbstarke beispielsweise beim Mähen, um es den Erwachsenen gleich zu tun.
An Michaeli, 29. September, packte ich nach dem Mittagessen meine Kleider in einen Karton und zog das Sonntagszeug an. In der Küche wie im Haus herrschte Abschiedsstimmung. Im Esszimmer neben der Küche war der Tisch gedeckt. Der Ritter sagte: “Denn mutt ick di ok woll mal din Lohn gäb’n.” Er machte eine Pause. “Die Mudder hat man abmookt: Föftein Mark in Monat. Ik Dach, ik wull di achtein gäven. Dat hast du woll verdaent.” Dann zählte er die 90 RM auf den Tisch.
Stolz konnte ich mich am nächsten Tag mit der Hälfte dieses Lohns bei Ulbrechts in Clenze neu einkleiden.
Nach der Lehre kaum Arbeit als Rademacher. Wieder in Beseland.
1932 war ich es leid geworden, als Stellmachergeselle auf Arbeit zu warten, um als Not-Knecht einzuspringen für vielleicht paar Wochen, um dann als Stammgast beim Arbeitsamt rumzugammeln. Ich ging wieder nach Beseland, wo ich bisher am besten das eigene Geld verdient hatte. Dort hatte ich mich als Mensch ohne Komplexe gefühlt und entwickelt. Sollte ich mich in die Reihen der arbeitslosen Familienväter einreihen?
Auf dem Hof Nr. 6 war gerade die richtige Stelle frei. Ich glaube, ich sollte neben der freien Station 40 (oder waren es zuerst 30?) Mark in Bar erhalten (bzw. auf das Sparbuch).
In meinem bekannten Rundling hatte sich wieder einiges verändert. Ritters hatten die Pachtung von Hof Nr. 3 aufgegeben und sich in Seelwig eine eigene Hofstelle erworben. Neuer Eigentümer in Beseland wurde Frau Pape mit Tochter, die schon erwachsen war. Als männliche Kraft hatte Adolf Großmann das flotte Gespann in Händen. Schröders von Hof Nr. 1 waren nach Prießeck verzogen. Der Hof wurde von den neu zugezogenen Tiemanns erworben. Herr Tiemann war im erlernten Beruf Zimmermann. Um unnötige Verwechslungen mit dem Tiemann-Schulzen von Hof Nr. 4 zu vermeiden, hießen letztere nun nur noch “Pensons” (Penshorn). Dieser Name war damit endgültig vom Hof Nr. 11 zum gegenüber liegenden Hof Nr. 4 gewechselt.
Nr. 2 hatte Assen-Heinrich die Schwester von Frau Staak geheiratet. Die Pächter hatten nach auswärts geheiratet. Auch bei Klauckens Hof Nr. 10 und 9 war eine Bäuerin gekommen. Herrmann hatte geheiratet, der ältere Adolf war noch auf dem gemeinsamen Hof Nr. 9, während das baufälligere Haus Nummer 10 nur noch als Stall und Scheune diente.
Kuhkalben
In der dörflichen Gemeinschaft hatte sich kaum etwas geändert. Wenn eine Kuh zum Kalben war, wurde aus der Nachbarschaft Hilfe geholt. Man meldete es nur an, in dem man allenfalls dazu sagte: “Is noch nich so ilig.” Oder: “Maak din Arbeit man er’s trecht.” Vier Personen sollten es etwa mindestens sein. Meistens waren es mehr, als nötig. Oft mussten die Frauen mit ran, wenn die Männer unterwegs waren. Einer war fast immer dabei: Lütt-Schulz, aber auch der Neffe: Klauckens Adolf. Die beiden galten irgendwie als Experten, vielleicht durch ihr Gehabe, vielleicht auch durch ihre Nerven und Ruhe. Natürlich galten alle älteren Bauern als Sachkenner mehr oder weniger. Die erste Autorität pflegte dann die Lage fachkundig festzustellen, in dem sie mit der Hand in den Mutterleib eindrang. Dann wurde ein Strang, auch wohl zwei, um die Füße des Kalbes geschlungen. Nun wurden Wehen abgewartet. Manchmal mussten die anwesenden Geburtshelfer ermahnt werden, nicht zu laut zu sein, um das Muttertier nicht zu beunruhigen. Das kam dann wohl meistens zu spät.
Man hatte oft den Eindruck, je mehr Leute dazu kamen, um so länger dauerte die Geburt. Wenn mit den Wehen der richtige Moment gekommen war, mussten die Helfer am Seil und an den Verlängerungen ziehen, nach Anordnung des Boss’, der die entsprechenden Zeichen gab. Komplikationen waren relativ selten. Es kam vor, besonders bei den jungen Starken, dass vorsorglich der Tierarzt gerufen wurde. Wer am flinksten laufen konnte, rannte dann zu Simons, die den öffentlichen Fernsprecher hatten, den Anruf besorgten Simons. In der Zwischenzeit war das Kalb meistens schon da, obgleich die Tierärzte damals schon ein Auto hatten.
Bei weidenden Muttertieren wurden Geburten oft erst bemerkt, wenn das Kalb schon da war und von der Mutter abgeleckt wurde. Bei Stallhaltung blieb das Kuhkalben für den Bauern immer ein Risiko.
Nachbarschaftshilfe
Bei diesem Angewiesensein auf die Nachbarnhilfe konnte es sich kaum jemand leisten, als Landwirt eigenwillige Wege zu gehen, die zu sehr schockierten. Trotzdem entwickelten sich die Nachbarschaftsbeziehungen nicht gleichmäßig. Manche sahen sich ja unwillkürlich täglich und redeten entsprechend miteinander. Sie sprachen sich den großen Backtag, das Dreschen und Rübenpflanzen, das Schlachten und so weiter gegenseitig ab. Beim Backen wurde “beigebacken”, beim Schlachten geholfen usw.
Auf der anderen Seite wurde weniger gemeinsam erledigt. Jeder Hof hatte seine bevorzugten Nachbarn. Daneben hatten manche Höfe gelegentlich auswärtige Hilfskräfte, Verwandte oder Tagelöhner. Man achtete auch darauf, dass die Hilfskräfte bekannt und vertraut waren mit Haus und Hof, Küche, Keller, Gerätschaften und Maschinen und auch mit den eigenen Gewohnheiten.
Eine andere Einrichtung war noch geeignet, den Gemeinschaftssinn wach zu halten: die Bekanntmachungen mit dem Knüppel, den Umlauf. Nachdem der Bürgermeister die Benachrichtigung in den Umlauf gegeben hatte, wusste jeder, dass er den Knüppel zum nächsten Hof und sicher übergeben musste. Da konnte keiner sagen: “Mit denen wollen wir nichts zu tun haben.” Wie kommt es aus nahe liegendem Grund dazu, dass sich die direkten Nachbarn am wenigsten vertragen können! Am besten also war es, dass man sich Mühe gab, mit allen gleichermaßen gut auszukommen.
Wandergewerbetreibende
An dieser Art der geschlossenen bäuerlichen Siedlungsform, an den Rundlingen, wie sie unter anderem auch in Beseland erhalten geblieben waren, mögen auch manche Wandergewerbetreibende ihre Freude gehabt haben. Damals kam unter anderem der Kaufmann Christoph Gall mit dem Pferdewagen wöchentlich auf den Dorfplatz, um alles das anzubieten, was normalerweise ständig gebraucht wurde, in Küche und Haus, die so genannten Kolonialwaren. Er brauchte nicht lange zu warten, er wurde ja erwartet. Für diese fahrenden Kaufleute waren die Rundlinge wie extra für sie geschaffen. Sie waren ja gleichzeitig Eieraufkäufer für die Bäuerinnen. Das Eiergeld stand den Hausfrauen zumindest zum Einkaufen zur Verfügung. An gewissem Wochentag standen die gesammelten Hühnereier gesäubert und gestempelt im Henkelkorb bereit. Bei Bedarf lag der Einkaufs Zettel dabei.
Meist genügte es, die Tür zur großen Futterdiele offen zu halten, um von der Küche durch die Groot-Döör den Dorfplatz zu übersehen. Für den Fall, das es nötig war, hatte der Kaufmann eine Klingelglocke bei seinem Sitz. So ging das Geschäft wohl bei allseits guter Laune über die Bühne unter der Dorfeiche. Einmal, so wurde berichtet, fragte eine Frau zum Beispiel, ob sein Mostrich auch frisch wäre. Der gut gelaunte, ausgeruhte Kaufmann sagte schlagfertig: “Keine Bange, den hev ick er’s hüt morgens frisch von de lütt Kinners tosaamen holt.” Sicher waren die Würze meistens stubenreiner.
Rundlingsphilosophie
Dies war nur ein flüchtiger Rückblick auf ein selbst erfahrenes Leben in einem landwirtschaftlichen Rundling. Es war ein relativ bescheidenes Leben auch in räumlicher Hinsicht. Vieles, was in den modernen Wirtschaftsballungen der Neuzeit zur Selbstverständlichkeit wurde, blieb den Rundlingen fremd. Soziale Ab- und Ausgrenzungen von Jugendlichen und Ruheständlern gab es nicht. Auf dem Dorfplatz lehrte der Großvater dem Kind die ersten Laufversuche. Streitende Schulkinder blieben unter Aufsicht der Erwachsenen. Für Diebesgut gab es keinen Raum. In keinem Lebensalter bestand die Gefahr der seelischen Einsamkeit, des Überflüssigseins. Die Natur bot mit der Tier- und Pflanzenwelt und der menschlichen Dorfgemeinschaft die nötige Orientierung fürs Entwickeln des eigenen Lebens. Aber die fortschrittliche Auffassung von Arbeitsteilung und Arbeitsverteilung machte den Bauern-Rundling irrational. Philosophisches über die Rundlinge Es erscheint mir eigentlich müßig, über Sinn und Zweck der bäuerlichen Rundlinge zu diskutieren. (Bezugnahme: 2. Jahresheft des Heimatlichen Arbeitskreises, Willy Schulz). Es ist in der Tat ausreichend diskutiert. Es bleibt bei den bekannten Hypothesen der Vor- und Nachteile, wobei klar sein dürfte, dass früher die Vorteile ebenso überwogen, wie heute die Nachteile. In vielen Jahrhunderten haben die Bedingungen sich eben entsprechend verändert, seien es die Ansprüche und Zielsetzung an die Wohnanlage oder die Wirtschaftlichkeit der Landwirtschaft. Die einstmaligen Voraussetzungen für eine Neugründung von Rundlingen fehlen sowieso. Lohnt es sich aber, sie heute zu pflegen und mit Leben zu füllen? Ihres Wohnwertes wegen wohl kaum. Eben nur zu musealen und Fremdenverkehrszwecken? Noch vor einem halben Jahrhundert, als soziale Spannungen und Kriege mit ihren Folgen unsere Welt erschütterten, waren die Vorzüge der bäuerlichen Rundlinge deutlich erkennbar. Fast unberührt konnte man damals im Rundling das Vorüberrauschen des Weltgeschehens überleben, kaum beachtet. Der Rundling war eben die Siedlungsform für Menschen, denen Fortschritt und Weltoffenheit nicht viel bedeuteten, denen Sicherheit, Ruhe und seriöse Vorsorge für die elementaren natürlichen Bedürfnisse mehr bedeutete. Sie waren weniger geeignet für dynamische Unternehmungen und individuelle Selbstverwirklichung. Es war schwierig, eigene Vorstellungen zu entwickeln, die das was sich gehört, ändern oder bessern wollten. Diese Siedlungsform war nicht nur konservativ, sie wurde von konservativen Menschen höher geschätzt als von Liberalen.