Küsten
Datum: 21. Januar 1955
Zeitraum: 1946 - 1960
Diese Aufnahme entstand, neben vier weiteren, für einen Artikel in der Heimatbeilage der EJZ, "Am Webstuhl der Zeit", erschienen am 21. Januar 1955. Sie wurde damals zu folgendem Text veröffentlicht:
"Eine echte Wendlandbäuerin
Zum 80. Geburtstage der Frau Wilhelmine Schulz in Küsten, der Hüterin wendländischer Trachten
Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat liebt wie du! Dieses Wort Adalbert Chamissos steht ungeschrieben über dem Leben einer Frau, die mit dem 22. Januar in das neunte Jahrzehnt ihrer Erdenwanderung schreitet. Morgen wird Wilhelmine (genannt Mine) Schulz, geb. Saucke in Küsten 80 Jahre alt. Wer in unserer engeren Heimat hätte wenigstens nicht schon einmal ihren Namen gehört!
Weit, weit über unseren Kreis hinaus ist diese echte Wendlandbäuerin bekannt geworden durch ihre Sammlung wendländischer Trachten. Professoren und Gelehrte, anerkannte Heimatkundler und Studenten und nicht zuletzt der unvergessene Regierungspräsident Dr. Koch sind bis in die jüngste Zeit zu Wilhelmine Schulz ins Haus gekommen, um sich von dieser Hüterin des wendländischen Grals über Brauchtum und Sitte vergangener Zeiten, wie sie sich zu einem großen Teile in den bunten Trachten einer versunkenen Vergangenheit spiegeln, erzählen zu lassen. Bei ihr waren, um nur einige zu nennen, zu Gast Dr. Jacob-Friesen, Dr. Asmussen, Dr. Bartsch. Und alle kehrten beglückt zurück, wenn sie dieser fest im heimischen Volkstum wurzelnden Frau inmitten ihrer ausgebreiteten Trachten- und Schmuckschätze hatten lauschen können.
Die Freude an den Trachten ist das schönste Erbteil, das Mine Schulz von ihrer Mutter mitbekommen hat. Auf einem Bauernhof im benachbarten Lübeln wurde sie 1875 geboren. Dort wuchs sie auf zu einer Zeit, in der man noch diese farbenfreudigen Trachten, die Mützen mit den buntbestickten Schleifen und Bändern und die schweren, mit glitzernden Blättchen reich besetzten Seidenkleider trug. Die Mutter selbst hatte bei ihrer Hochzeit noch vollen wendländischen Brautschmuck getragen, und 1883/84 sah Wilhelmine Schulz in der Plater Kirche die letzte Braut in voller wendländischer Tracht mit den vier Brautleitern. Als sie 1889 konfirmiert wurde, trug auch sie noch Tracht, zwar nicht mehr die Mütze, aber „Jade und Rock“.
Doch immer stärker wurde die Verstädterung in der Kleidung auf dem flachen Lande. 1900, so sagt Frau Schulz, war alles vorbei! Ehrfurcht und Achtung vor den Trachten gingen mehr und mehr verloren. Als dann gar Kinder mit diesen zu spielen begannen, da griff Mutter Saucke in Lübeln ein: Sie sammelte diese Trachten oder kaufte sie auf, weil sie in dieser Nichtachtung durch die Jugend eine Entheiligung überlieferten Brauchtums sah, und die Tochter Wilhelmine hat ganz im Sinne ihrer Mutter gehandelt, als sie diese Sammlung von ihr zu treuen Händen übernahm, um sie der Nachwelt zu erhalten.
Unter diesen Schätzen, die sie ehrfurchtsvoll wie ein Kleinod hütet, befindet sich als ältestes Stück eine goldene Mütze aus dem Jahre 1790, die einst Frau Koopmann in Lübeln getragen hat, findet sich eine bunte Seidenschürze aus Lübeln (1840 bis 1850). Groß ist die Zahl der Mützen in ihren mannigfachen Variationen und der Schmuckstücke wie alter Ohrgehänge in Gold und Silber, die sich in dieser Sammlung befinden. Vieles, vor allem alte Trachtenkleider, ging 1945 verloren, als polnische Zwangsarbeiter in Küsten einquartiert wurden.
Als Kantor Carl Mente im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Altertumsverein gründete, da war Wilhelmine Schulz eine seiner eifrigsten Mitarbeiterinnen bei der Ausgestaltung von Heimatfesten. Wenn sie noch heute von einem zweitägigen Feste beim Grafen v. Oeynhausen in Dötzingen mit einer echten wendländischen Hochzeit und einer Bauernversammlung im alten Geiste, wenn sie von dem Lüchower Buernbeer berichtet, dann leuchten ihre Augen, und das Herz wird ihr warm. Mit Begeisterung hat sie in vorschriftsmäßiger Weise die Braut geschmückt. Wohl veranstaltet man auch heute noch hin und wieder wendländische Brautzüge in alten Trachten, doch man zieht die Teilnehmer nicht mehr richtig an, meint Mine Schulz. Viele plattdeutsche Theaterstücke hat man einst aufgeführt, doch später schoben sich andere Heimatdichter, so meinte Mine Schulz, in den Vordergrund, Leute mit reger Phantasie und greller Theatralik und geschwollener Sprache, die nicht unserem Bauerntum entsprach.
Wenn man sie erzählen hört, möchte man meinen, sie sei die letzte echte Wendlandbäuerin unter uns. Ein Unterton von Bitterkeit und Wehmut schwingt mit, wenn Mine sagt: „Das Bäuerliche wollen sie nicht mehr, und das andere liegt ihnen nicht!“ Vor ihrem geistigen Auge steht noch immer eine vergangene Zeit, an der sie mit ihrem ganzen Herzen hängt, der sie in stillen Stunden leise nachtrauert, die ihr aber jederzeit wieder allgegenwärtig aufsteigt, wenn sie mit ihren alten Händen über ihre geliebten Trachten streicht.
Fast 60 Jahre ist ihr der Küstener Hof jetzt Heimat geworden. Als sie am 1. Mai 1895 als junge Frau ihres vor 12 Jahren verstorbenen Mannes Willi Schulz, eines weitbekannten Schweinezüchters, auf diesem Hofe Einzug hielt, waren acht Geschwister ihres Mannes abzufinden. Das setzte für sie als junge Bäuerin und neue Seele des Hauses voraus, daß sie sparsam wirtschaftete. Nun, Wilhelmine Schulz wurde eine anerkannt tüchtige Bäuerin und traf sich mit ihrem Manne in einem großen Interesse für die Viehzucht. Beide erhielten Preise und Anerkennungen auf zahlreichen Ausstellungen. 57 Jahre, von 1897—1954, verwalteten Schulzes die Poststelle Küsten in ihrem Hause.
Besonders stolz ist Wilhelmine Schulz auf eine silberne Medaille, die sie einmal in Hannover für ausgestelltes Leinen erhalten hat. Das Spinnen und Weben, das einmal im Lübelner Elternhause den Hauptanteil des Wirtschaftsgeldes einbringen mußte, hat die junge Wilhelmine frühzeitig von der Mutter gelernt. Schon vor ihrem 6. Lebensjahre hat sie Tücher gewebt, die sie noch heute in Ehren hält. Und ein Jahr nach der Konfirmation mußte sie altem Brauche gemäß ein Dutzend Handtücher weben, die in ihrem reich gefüllten Leinenschrank noch jetzt einen Ehrenplatz einnehmen.
„Da, wo der Herr dich hingestellt, da blüh zu seiner Ehre!“ Nach diesem Leitwort hat Wilhelmine Schulz gehandelt und gelebt. „Glücklich un tofreden lewt de Minsch in de Welt, wenn he sien Nest un de Olln in Ehren hölt“. Ein starkes Gottvertrauen und die Ehrfurcht vor allem, was in, über und um uns ist, haben Wilhelmine Schulz zu einer weit über unsere Heimat hinaus bedeutenden Persönlichkeit werden lassen, zu einem Vorbild für alle, die auch heute noch in einem gesunden Bauerntum den Urquell eines starken Volkstums sehen. Auch dieser in harter Arbeit zu einer aus der Urkraft heimischer Scholle gereiften Frau ist das Leben manchen Wunsch schuldig geblieben und hat ihr manche Hoffnung zerschlagen. Wenn sie dennoch heute mit einer achtzigjährigen Lebenserfahrung freudig bekennt: „Wenn ich noch einmal geboren würde, ich würde nichts Anderes als wieder Bauernfrau!“, dann ist das die Summe eines doch glücklichen Lebens. Möge dieses Glück innerer Zufriedenheit noch lange dieser hochbetagten Frau mit einem ewig jungen Herzen ein treuer Begleiter an ihrem sonnigen Lebensabend sein und möge ihr schönstes Werk, die reichhaltige Trachtensammlung, immer bleiben, was sie nach ihrem Willen den lebenden und kommenden Geschlechtern künden soll: De Olln to Ehr, de Jungen to Lehr!
Dr. Carl Gehrcke."
Der Rundlingsverein hat im Rahmen seiner Publikationsreihe zu Orten und Themen des Wendlands eine 32-seitige Broschüre über das Leben und Wirken von Mine Schulz, sowie die Trachtenbräuche des Wendlands, publiziert.
Autor/-in:
Kurt
Schmidt (tt)
Quelle:
Torsten
Schoepe
Nutzungsrechte: Zur Klärung etwaiger Urheberrechte wenden Sie sich bitte an Torsten Schoepe, Plater Weg 4, 29439 Lüchow, e-mail torsten@schoepe.de. Wenn als Autor Torsten Schoepe angegeben ist, unterliegt die Abbildung besonderen Nutzungsrechten.
Portrait • Trachten
Archiv-ID: 60065