Demo auf der Waldbrandfläche

Gorleben (Bereich der Atomanlagen)
Datum: 12. März 1977
Zeitraum: 1971 - 1980

Veranlasst durch den Kommentar des Bildautors Hans-Hermann Müller, hier die Berichterstattung in der EJZ vom 14.3.1977 zu der Kundgebung von Kurt Schmidt (tt) und Hans-Hermann Müller (ür):

Gegen Atom- und Polizeistaat
10 000 demonstrierten friedlich — Nicht Wachstum über alles — Ohne Helm, mit Blume

Trebel. Der Kreis Lüchow-Dannenberg erlebte am Sonnabend die bisher größte Menschenansammlung in seinen Grenzen. Etwa 10 000 aus allen Teilen der Bundesrepublik und aus dem Ausland waren gekommen, um auf der kahlgeschlagenen VValdbrandfläche zwischen Trebel und Gorleben, dem vorgesehenen Standort für eine Atommülldeponie, gegen die Kernenergie zu protestieren. „Kommt friedlich, ohne Helm, mit Blume“ hieß der Aufruf der hiesigen Bürgerinitiative. Daran hielten sich die Demonstranten. Es kam zu keinen Ausschreitungen. Um so mehr wirkten die harten Worte der Redner, die an die Adresse der verantwortlichen Politiker und die Mächtigen der Energiewirtschaft gerichtet waren, um so effektvoller waren die Forderungen auf Spruchbändern und Plakaten. Die überwiegend jungen Bürger, die sich hier versammelt hatten, machten eindrucksvoll deutlich: „Wir lassen uns nicht verschaukeln! Wir werden unsere Zukunft mitbestimmen!“


Der Bundesvorsitzende der Bürgerinitiativen Umweltschutz, H. H. Wüstenhagen , empfahl den Politikern, den Atommüll im Bundestag aufzubewahren, denn dort säßen die Befürworter der Kernkraftenergie. „Wir werden den Bau von Atomkraftwerken und die Errichtung der Atommülldeponie verhindern!“, erklärte Wüstenhagen unter dem starken Beifall der Menge. Wie der Bundessprecher der Bürgerinitiativen warnte auch Zukunftsforscher Robert Jungk nicht nur vor den lebensgefährlichen Strahlen, sondern auch vor der Einschränkung der demokratischen Freiheit in einem von Angst und Mißtrauen erfüllten Atomstaat.

Abordnungen aus den Niederlanden, aus Dänemark, Schweden und Norwegen sowie ein Sprecher aus England übermittelten Grußbotschaften an die Atomkraftgegner in Deutschland. Die Professoren Schäfer. Bleck, Haverbeck und Bruhns verwiesen auf die schweren Widersprüche der Atomphysiker untereinander und auf die halben Wahrheiten der Kernenergiebetreiber. Die Gefährlichkeit der Kernkraftwerke und der Atommüllwiederaufbereitungsanlagen sei unbestritten.

Die zahlreichen Redner hatten ein aufmerksames Publikum. Immer wieder Beifall der Masse und Rufe: „Der Wald soll hier wieder grünen, nicht das Plutonium!“ und „Wir lassen uns nicht durch inhaltslose Floskeln der Atom-Verdiener einschüchtern!“ Und Protestsänger: „Das Ding kommt hier nicht her, da setzen wir uns zur Wehr.“ Und das Spottlied „Wachstum, Wachstum über alles, über alles in der Welt.“ Und: „Platzt ein Rohr im Atommüllwerk, strahlt ganz Lüchow-Dannenberg“.

Bunte Luftballons, einige hundert mögen es gewesen sein, stiegen in den blauen Vorfrühlingshimmel: ein Ausdruck von Lebensfreude, eine Absage an zerstörendes Wachstum und Strahlentod.

Trebel, 9.10 Uhr: Ein. starkes Aufgebot an DRK-Helfern hat mit seinen Fahrzeugen in der Schule sein Hauptquartier aufgeschlagen. Einheimische Autofahrer kommen ohne Schwierigkeiten über Marleben nach Gedelitz und weiter bis Gorleben. Verkäufer hinter ihren Tresen schauen den Vorbeifahrenden nach. Zu diesem Zeitpunkt ahnen sie noch nicht, daß sie nahezu mit ihrer gesamten Ware am Abend den Rückweg antreten werden. Kurz vor Gorleben die erste Gruppe von Demonstranten mit Fahnen und Spruchbändern auf dem Weg in Richtung „Gorlebener Tannen“.

In Liepe hatte das Ereignis bereits am Freitagabend seine Schatten vorausgeworfen. Von vielen Einwohnern unbemerkt, machten zur Tagesschau-Zeit Oldenburger Polizeibeamte das Gemeinschaftshaus zu ihrer Zentrale. Als dann in aller Frühe des Sonnabends die Fahrzeuge zweier Hundertschaften in den Straßen rund um das Gemeinschaftshaus aufgefahren waren, schien der Ort einer der bestbewachtesten des Kreises zu sein. Die rund 230 Polizisten hatten einen leichten Dienst vor sich, ihre Schutzschilde und -helme brauchten nicht ausgeladen zu werden.

Trebel, 10 Uhr: BGS-Piloten setzen ihren gelben Rettungshubschrauber auf dem Schulhof auf. Er wird sich erst wieder am Abend zum Rückflug nach Hannover erheben. Kundgebungsplatz, 10.10 Uhr. Auch hier trifft man zu dieser Zeit mehr Einsatzkräfte und Ordner als Demonstranten. Einige Kernenergiegegner sammeln geschwärzte Äste, um sie im kleinen Lagerfeuer nun endgültig zu verbrennen. Über dem der Christlichen Pfadfinder aus Hamburg, in sicherer Entfernung zur geräumigen Jurte, steigt aus einem rußgeschwärzten Topf Wasserdampf. Ein Treckerfuhrwerk mit einem Anhänger voller Demonstranten hält auf dem das Kundgebungsgelände durchschneidenden Weg, an dem eine Reihe von Verkäufern an ihren Buden auf Kundschaft warten. Unweit der B 493 beginnen Tatkräftige, eine Holzplastik zu errichten, dort entsteht am Nachmittag ein „Spontanspielplatz“ für Kinder. Und Mitglieder der Bürgerinitiative Tostedt setzen die ersten Bäumchen der „Wendlandschonung Gartow/Gorleben“ nach dem Motto „Wiederaufforstung statt Wiederaufbereitung“ und bitten auf Schildern „ . . . und betreten Sie dieses Gelände nicht in Bauarbeiterschuhen oder gar Polizeistiefeln“.

11.45 Uhr: Der Strom ankommender Gleichgesinnter verstärkt sich. Der Einweiser vor dem Parkplatz in Marleben hat jetzt alle Hände voll zu tun. Vor dem Gemeinschaftshaus in Liepe genießen die jungen Polizeibeamten bei strahlender Mittagssonne im Freien ihre Linsensuppe. Ihre Kollegen auf dem Kundgebungsplatz, 15 an der Zahl, vertreiben sich beim Grand mit vieren und beim Nullouvert die Zeit.

13.30 Uhr: vom Podium auf dem Kundgebungsgelände verkürzen Musiker und Sänger die Zeit bis zum Hauptprogramm, das die Vorsitzende der hiesigen Bürgerinitiative Umweltschutz, Marianne Fritzen, eröffnet. Alwine Abbass, Laasche, fordert: „Unsere Enkel sollen nicht mit der Angst im Nacken und dem Geigerzähler auf der Brust ihr Brot verdienen.“ Der Schriftsteller Nicolas Born aus Dannenberg löst einen Beifallssturm aus, als er ins Mikrofon ruft: „Wer uns entsorgen will, den wollen wir stillegen.“ Politiker und Befürworter befänden sich in einem nuklearen Fortschrittsrausch. „Wann werden die Betreiber derartiger Anlagen endlich begreifen, daß sie zum Sicherheitsrisiko geworden sind?“, fragt Born und geißelt die Wachstumsbemühungen mit den Worten: „Wir steigern den Zuwachs so lange, bis nichts mehr wächst als der Zuwachs selber!" Als Redner aus dem hiesigen Raum sprechen Landschaftspfleger Gert Kragh, Bussau, der Arbeiter Werner Thiele-Schlesier, Dannenberg, und Landwirt Horst Schulz, Holtorf, zu der Menge.

16.45 Uhr: Als die Schatten länger und länger werden, wandern die ersten wieder ab, noch ehe der letzte Redner zu Wort gekommen ist. Die Blechlawine kommt wenig später voll ins Rollen. Was vormittags ausblieb, zieht sich nun langsam durch Lüchow gen Westen, Wagen hinter Wagen, darin junge und ältere Personen mit staubigen Gesichtern und dem festen Willen, in einer Woche in Grohnde erneut gegen die Kernenergie zu Felde zu ziehen.

tt/ür
Autor/-in:  Hans-Hermann  Müller
Quelle:  Hans-Hermann  Müller
Nutzungsrechte: Alle Rechte an dieser Aufnahme liegen bei dem Autor Hans-Hermann Müller, ehemaliger Chefredakteur der Elbe-Jeetzel-Zeitung. Jegliche Veröffentlichung nur mit schriftlicher Genehmigung. Anfragen über den Kontakt des Wendland-Archivs unter torsten@schoepe.de.
Atomenergie und Widerstand
Archiv-ID: 21664
Kommentare
Hans-Hermann Müller 12.01.2022
Zukunftsforscher Robert Jungk warnte vor rund 10 000 Menschen, die friedlichen gegen eine Atommülldeponie zwischen Trebel und Gorleben demonstrierten, vor lebensgefährlicher Strahlung und auch vor der Einschränkung der demokratischen Freiheit in einem von Angst und Misstrauen erfüllten Atomstaat. Im Hintergrund Marianne Fritzen, die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg.
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