Tiesmesland
Datum: Juli 1976
Zeitraum: 1971 - 1980
Der Autor Hans-Hermann Müller schreibt im Januar 2021 zu den Bildern:
...hier nun eine Auswahl meiner Fotos von der Rückholaktion der DDR-Rinder am 23. Juli 1976 in Tiesmesland. Die 37 Färsen, sie gehörten der LPG "Fortschritt" in Kaarßen, hatten ihre Weide an der Elbe in Richtung Westen durch den Strom, der lediglich Niedrigwasser führte, verlassen, nahe Tießau das westliche Ufer betreten und ließen sich danach das frische Grün einer Weide am Rande von Tiesmesland schmecken. Zwei Viehtransporter mussten sie dort abholen, um sie wieder in den heimischen Stall zurückzubringen - natürlich gegen Erstattung der Kosten in Höhe von 2.485,50 D-Mark. Ein deutsch-deutscher Kuhhandel, über den man heute nur noch schmunzeln kann.
Der vollständge Bericht über die Aktion wurde am 24. Juli 1976 in der EJZ veröffentlicht:
Der Widerspenstigen Zähmung
37 Färsen in Lkw zurück — Innenministerium schaltete DDR-Vertretung ein
Tiesmesland. Die Ständige Vertretung der DDR in Bonn bat das Bundeskanzleramt um Hilfe bei der Rückgabe der Rinder, die am Donnerstag bei Tießau durch die Elbe von Osten nach Westen gewatet waren. Das Bundesinnenministerium gab dem Landkreis Lüchow-Dannenberg für die Terminabsprache mit den DDR-Behörden freie Hand, und der Landkreis ließ jene über das „rote Telefon“ in Schnackenburg wissen, wann die Übergabe erfolgen sollte. Bereits gestern um 9.10 Uhr rollten ein Wartburg und zwei Lkw vom Typ W 50 L mit zwei Anhängern über den Grenzübergang bei Lauenburg in Richtung Tiesmesland. Der Behördenapparat war schnell in Bewegung gekommen.
Damit war dem Verlangen des Landkreises, die entlaufenen Rinder umgehend abzuholen, da sie „wegen Futtermangels nicht lange verwahrt werden“ könnten, nachgekommen worden. Gegen 10.30 Uhr traf der DDR-Konvoi mit dem Kreistierarzt des Kreises Hagenow, Dr. Neßmann, einem Vertreter der LPG „Fortschritt“ Kaarßen, zu der die entflohenen Tiere gehören, und den beiden Lkw-Fahrern in Hitzacker beim Zollkommissariat ein, um ihre Rinder zu übernehmen.
Vorausgegangen waren zahlreiche Telefonate, die Kreisoberamtmann Braband am Donnerstag zur Klärung der Angelegenheit führen mußte. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Rinder schlug er von dem Zollboot „Dannenberg“ über Lautsprecher bei dem geöffneten Durchlaß im Metallgitterzaun drei auf dem Deich stehenden NVA-Soldaten ein Direktgespräch vor und wünschte eine Mitteilung, ob die DDR von der Möglichkeit der Rückholung gegen Kostenerstattung Gebrauch machen will. „Andernfalls müssen die Rinder verwertet werden“, bekräftigte Braband.
Doch die Gresos reagierten nicht. Daraufhin wurde unter Mithilfe einiger Einwohrer und BGS-Beamten eine Weide für die Herde instandgesetzt. Um 15.35 Uhr teilte das Bundesinnenministerium (BMI) dem Landkreis auf Anfrage mit, dass die Durchsage über das „rote Telefon“ in Schnackenburg doch gegeben werden solle. In diesem Gespräch wurde wieder um sofortige Rückholung gegen die Erstattung der Kosten gebeten.
Die Antwort der DDR um 16.30 Uhr: „Ihre Information entspricht aber nicht den Vereinbarungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik über die Schadensbekämpfung. Wenden Sie sich bitte an Ihre zuständigen Organe.“
Bereits um 16.21 Uhr hatte das BMI fernmündlich mitgeteilt, dass die Ständige Vertretung der DDR in Bonn das Bundeskanzleramt um Rückgabe der Rinder gebeten hatte. Das Bundeskanzleramt habe geantwortet, ob die Angelegenheit nicht auf örtlicher Ebene abgewickelt werden sollte.
Im Einvernehmen mit der DDR-Vertretung teilte dann der Landkreis der DDR über das „rote Telefon“ mit, daß „wir ihre Fahrzeuge für die Rückholung der Rinder, über den Grenzübergang Lauenburg/Horst kommend, am 23. Juli um 11 Uhr beim Zollkommissariat Hitzacker erwarten“. Gleichzeitig wurden die Voraussetzungen für die Rückgabe, die Kostenerstattung in Höhe von etwa 2 500 DM für Einfangen, Schäden und Fütterung sowie Übergabe einer amtstierärztlichen Bescheinigung über Seuchenfreiheit, genannt.
Schweiß kostete es gegen Abend Feuerwehrmänner, Zoll-, Polizei- und BGS-Beamte, die Rinder auf einer Pferdekoppel des Landwirts Günter Harder in Tiesmesland zusammenzutreiben, als die Herde um 16.50 Uhr ausgebrochen und durch den Hafen und von Tießau in Richtung Tiesmesland gerannt war. Erst um 17.45 Uhr gelang es, die Tiere wieder einzufangen. Feuerwehrkräfte mußten einige im Elbeschlamm versackte Rinder bergen. Eine Starke verendete auf einer Wiese.
Mit einem mit 2 500 DM prall gefüllten Portemonnaie traf Dr. Neßmann aus dem Kreis Hagenow entsprechend den Abmachungen hier ein. Wie alte Bekannte begrüßten sich Oberamtmann Braband und ein Lkw-Fahrer, der im Mai vergangenen Jahres die seinerzeit entlaufenen Rinder in den heimischen Stall chauffieren mußte. Unter den Augen von Veterinärrat Dr. Kobow-Lüchow und zahlreicher BGS- und Zollbeamter — auch die Besatzungen eines NVA-Streifenbootes versuchte, mit Ferngläsern von der Elbe aus Augenzeuge des Geschehens zu werden — begann dann gegen 12 Uhr das Verladen der Rinder. Das verlief nicht ohne Schwierigkeiten, denn die nervösen Tiere gingen keineswegs freiwillig auf die Wagen. Wietzetzer Feuerwehrmänner mussten zur Hilfe geholt werden, die dann die widerwilligen Tiere einzeln verluden. Gegen 15 Uhr schloss sich hinter der letzten der 37 Färsen die Wagenluke.
Nach Zusammenrechnen aller Unkosten bezahlte Dr. Neßmann 2.485,50 DM, bedankte sich für das korrekte Verhalten auch im Namen des Rates des Kreises Hagenow und trat gegen 15.30 Uhr mit seiner Begleitung die Heimreise an. Oberamtmann Braband hatte ihn zuvor noch nach dem Schicksal, der Kuh „Gesine“ gefragt, die Anfang Januar von Brandleben aus in die DDR geschwommen war. Dr. Neßmann, der sich damals mit dem Fall zu beschäftigen hatte, bestätigte, die Kuh verendet gesehen zu haben.
Nach Worten des DDR-Kreistierarztes werden die Ausreißer zunächst für längere Zeit in Quarantäne genommen, um ein Einschleppen von Krankheiten auszuschließen. Nicht ausschließen kann man jedoch, dass irgendwann erneut eine Rinderherde über die Elbe westliche Weiden aufsuchen wird, denn, so Oberamtmann Braband, der Metallgitterzaun, der die Weideflächen der Tiere ins Landinnere versperrt, löste diese Herdenfluchten aus. ür
Autor/-in:
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