"Gümser Gipfel"

Gümse
Datum: 15. Juni 1985
Zeitraum: 1981 - 1990

Bildunterschrift (EJZ vom 18.6.1985):
BEIM „GÜMSE-GIPFEL“ warben SPD-Chef Brandt, Günter Grass und andere prominente Sozialdemokraten für ihren niedersächsischen Spitzenkandidaten Schröder. Das Wetter zeigte sich dabei von seiner schlechtesten Seite.


Bericht in der EJZ, Dienstag, 18. Juni 1985:

Zeltfest am See als Wahlhelfer-Werbung
SPD angelte in Gümse „große Fische"
Willy Brandt: „Nichts wichtiger als Niedersachsen“ - Grass an Schröders Seite

Gümse. Der Maler Horst Janssen war schon früh betrunken und verkündete durchs Mikrofon: „Wir, die wir hier saufen und essen, wir wählen jetzt einfach den Schröder.“ Beim nächsten Auftritt von Janssen —das Hemd jetzt weit offen und der Kragen an einer Seite hochstehend —waren allerdings andere wichtiger. Am linken Bühnenrand im Zelt stand ein Trio vor surrenden und klickenden Kameras: Uwe Bremer, Künstler aus Gümse, Gerhard Schröder, Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD für die Landtagswahl, und Willy Brandt, gebräuntes Gesicht, die linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger an Kinn und Wange gelegt. So gesehen beim Gipfel in Gümse.

Uwe Bremer und Günter Grass hatten für Sonnabend ab 15 Uhr ins Festzelt am Seeufer eingeladen; ein Spektakel mit Musik, Kabarett, Büffet, und freien Getränken, um Schröders Wahlkampf zu unterstützen. Die „Stadtmusikatzen“ und andere Gruppen boten Klassisches und Modernes; Pantomimen traten nicht nur auf der Bühne, sondern auch mitten im Publikum auf. Die Kosten sollen über 50 000 DM betragen, die SPD schießt Geld zu.

Lüchow-Dannenberger mischten sich zwischen „Tanzparkett“ und Theke mit bundesdeutscher Prominenz aus Politik und Kultur. Mancher Angekündigte erschien zwar nicht, aber zum Beispiel waren da: Lew Kopelew und Günter Gaus, Barbara Dickmann und Lea Rosh, Hark Bohm und Katja Ebstein, Peggy Parnass und Hans-Joachim Friedrichs, „Stem“, „Spiegel“, „Zeit“ und NDR hatten Vertreter entsandt. Journalisten zählen zu den sogenannten Multiplikatoren, die ihrerseits viele Menschen erreichen und deshalb lohnende Objekte politischer Direktwerbung sind.

Der Gümser Gipfel - eine Lehrstunde also, wie Politik entsteht. Und mit mehr als 500 Menschen eine bunte Versammlung: violette Lippen, gelbe Öljacken (denn das Wetter war schlecht) und Begrüßungscocktails in glühendem Orange. Mit Rot und Grün bemalten Kinder in einem Spielzeit während des Nachmittags die Köpfe von hölzernen Steckenpferden.

Günter Grass konstatierte, in der SPD sei von unten nach oben Bewegung entstanden („Die Grünen haben es seitdem schwerer“). Er erinnerte an die sozialdemokratischen Wählerinitiativen, die auch in Niedersachsen wieder aufleben und das „kritisch-solidarische“ Gespräch mit der Partei in Gang bringen sollen. Grass selbst wird die SPD im Wahlkampf 1986 unterstützen. Weitere Hilfswillige konnten sich im Zelt in eine Liste eintragen.

„Es gibt für ein knappes Jahr nichts Wichtigeres als Niedersachsen“, sagte Willy Brandt. Von einem Bündnis zwischen kulturellen/geistigen und politischen Kräften war die Rede, von Erneuerung und von Gümse als einem wichtigen Zeichen. Brandt plädierte für Gleichrangigkeit der kulturellen Bedürfnisse neben den sozialen. Die Kulturschaffenden dankten’s mit Applaus.

Gerhard Schröder, im stahlblauen Wollpullover, stellte sich als der progressive Kandidat dar: aufgeschlossen, lernfähig und -willig, eben „unser Kumpel“ in der Staatskanzlei.

Bedenken jedoch trieben Atomkraftgegner aus Lüchow-Dannenberg und Lüneburg um. Sie drängten am Nachmittag auf das Gipfelgelände, was die Gastgeber nervös machte. Man einigte sich per Handschlag: Die Kernkraftgegner verschwanden, durften aber vorher über Mikro eine Erklärung verlesen; sie lag auch als Flugblatt vor. Darin kündigt der Lüneburger Arbeitskreis gegen Atomanlagen (LAGA) an, man wolle der SPD ihre Aufbruchstimmung vermiesen. Der Ausstieg aus Atomenergie und Plutoniumwirtschaft, den die Partei heute propagiere, sei gar nicht ernst gemeint, so die Kritiker. Daß der SPD-Wahlkampf gerade in Lüchow- Dannenberg beginne, „ist blanker Zynismus“. „Es waren auch gerade SPD-Politiker, die sich jahrelang, nicht zuletzt in ihrer Regierungszeit in Bonn, für Atomanlagen im Wendland starkgemacht haben“, weiß der LAGA. Nachdem dies kundgetan war, zogen die Fundamentalisten unter den Nichteingeladenen ab. Die „Realos“ dagegen kamen unauffällig ins Zelt und langten bei Speis’ und Trank ordentlich zu.

Und immer wieder posierte die Prominenz. Schröder und Brandt am Tisch - ein Ring von Fotografen wurde hockend, stehend und sich reckend tätig. Genauso beim Motiv „Schröder mit Pferd auf der Wiese“, denn das Motto des Festes hieß „Wir zäumen das Roß neu auf“. Brandt auf dem Steg am See - das ZDF stellte Fragen für die gestrige „Reportage am Montag“. Aus dem Zelt wehte gerade Kaffeehaus-Musik herüber.
Nur ab 21 Uhr, da sollte nicht mehr gefilmt werden. So unbekümmert wie Horst Janssen ist wohl nicht jeder. -db (Detlev Brockes)-
Autor/-in:  Jörn  Rehbein
Quelle:    Archiv der Elbe-Jeetzel-Zeitung
Politik
Archiv-ID: 60088
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